Neben Deutschland war Schweden über viele Jahre einer der Hauptzielorte für Schutzsuchende in Europa. Das hat sich gewandelt. Seit 2016 geht die Anzahl der Asylbewerber mehr oder weniger kontinuierlich zurück. Als Grund gilt die Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik – vollzogen von der sozialdemokratisch geführten Regierung, verschärft seit 2022 von der konservativen Minderheitsregierung. Letztere wird toleriert von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten, die die Migrationspolitik maßgeblich bestimmen. In der Übereinkunft einigten sich die Rechtspopulisten mit den Regierungsparteien auf eine Reihe von Verschärfungen, darunter mehr Abschiebungen. Deswegen wird Schweden nun in der deutschen Debatte über Rückführungen nach Afghanistan als Beispiel herangezogen. So schrieb kürzlich CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann nach dem Angriff eines Afghanen auf einen Polizisten in Mannheim: „Schweden zeigt doch, dass es geht. Von dort wurden im vergangenen Jahr gleich mehrere Personen wegen Straftaten direkt nach Afghanistan abgeschoben.“
Aber kann Schweden wirklich als Vorbild für Abschiebungen dienen? Tatsächlich brachte das Land nach Polizeiangaben von Januar 2023 bis Mai 2024 neun Personen nach Afghanistan zurück. Drei davon wurden nach Angaben einer Sprecherin der Polizei wegen einer Straftat ausgewiesen, eine Person wurde nach einer Kontrolle an einer Binnengrenze „abgeschoben“, fünf Personen wurden demnach der Polizei von der Migrationsbehörde übergeben; sprich, sie hatten ihren Aufenthaltsstatus verloren.
Nun sind Abschiebungen eine heikle Sache. Sie scheitern aus vielerlei Gründen. Dazu gehören fehlende Ausweisdokumente, Krankheiten, abgetauchte Abzuschiebende sowie die fehlende Kooperation des Herkunftsstaats. Schließlich muss dieser seine Staatsbürger wieder aufnehmen. Schweden erkennt ebenso wie Deutschland die Regierung der Taliban nicht an. Es gibt keine diplomatischen Beziehungen, was eine Kooperation bei Abschiebungen unmöglich macht. Wie genau die Polizei die Afghanen daher in ihr Heimatland bringt, erklärt sie nicht. Eine Sprecherin sagt dazu, es gebe keine Direktflüge nach Afghanistan, „die Rückkehr wird per Transit abgewickelt“. Und alle der Zurückkehrenden hätten die Rückführungen „akzeptiert“. Faktisch handelt es sich damit um freiwillige Ausreisen, nicht um Abschiebungen.
Wie diese erfolgen, berichtete im November der Sender SVT. Schweden wolle Afghanen mithilfe eines Tricks zurückbringen – genauer auf einem Umweg über Usbekistan. „Wir fliegen gemeinsam nach Usbekistan und sorgen dafür, dass sie das Flugzeug nach Kabul besteigen“, zitiert SVT einen führenden Polizisten. Auch das schwedische Radio berichtete über diesen „neuen Weg“, Abschiebungen nach Afghanistan zu ermöglichen. Demnach nutzt die Polizei dabei die afghanische Fluglinie Kam Air, die wegen fehlender Sicherheitsstandards auf der roten Liste der EU steht. Die Abgeschobenen flögen mit der Polizei nach Usbekistan und bestiegen dann das Flugzeug nach Kabul. Alles auf freiwilliger Basis, schließlich kooperiere man ja nicht mit dem dortigen Regime. Auf eine Zunahme der „Freiwilligkeit“ von Ausreisepflichtigen wird in Schweden verstärkt hingearbeitet. Etwa durch die Verkürzung des Aufenthaltsstatus oder die geplante Unterbringung von Kindern in Abschiebungszentren. Für die Regierung in Stockholm steht das Thema Abschiebung, vor allem von Straftätern, weit oben auf der Agenda.
Auch was Syrien angeht, verfolgt man eine harte Linie. So wurden bis September 2023 nach Angaben von SVT 73 syrische Straftäter zur Abschiebung verurteilt. Allerdings befand sich demnach Ende des Jahres der allergrößte Teil noch im Land. Auch zum syrischen Regime gibt es schließlich keine diplomatischen Beziehungen. Schwierig sind auch Abschiebungen von verurteilten Straftätern nach Somalia; statt in die Heimat zurückgeflogen zu werden, werden die Personen in Schweden nun Medienberichten zufolge oft von Einrichtung zu Einrichtung herumgereicht. Das dürfte aus Sicht der schwedischen Regierung ebenso wie die Ausreise von einigen wenigen Afghanen Mittel zum Zweck sein. Ähnlich wie im benachbarten Dänemark, dessen strikter Kurs bei der Asylpolitik Schweden wie Finnland mittlerweile als Vorbild dient, sucht man Signale ins Ausland zu senden, die den Zuzug verringern.
In Dänemark verlieren derzeit viele Syrer ihren Schutzstatus, wenn sie aus bestimmten Gebieten des Landes kommen, die aus Sicht der Behörden sicher sind. Abgeschoben werden können sie nicht, also leben sie in Dänemark in sogenannten Transitzentren, oft weit abgelegen auf dem Land. Viele von ihnen verschwinden irgendwann, gehen vermutlich in andere europäische Länder. 2023 kamen nach Dänemark nur rund 2500 Asylsuchende, 2022 waren es noch 4500 gewesen, 2015 rund 21.000.
In Schweden ist die Entwicklung mittlerweile ähnlich, auch wenn die Zahlen noch höher sind: Hier betrug die Zahl der Asylbewerber nach Angaben des Statistikamts 2023 rund 12.600, 2022 waren es 16.800 gewesen, 2015 rund 162.900 Personen. Aus Afghanistan kämen derzeit ohnehin kaum noch welche nach Schweden, sagen Migrationsfachleute. Allerdings ist, was Afghanistan angeht, die Zahl der zu einer Rückkehr Verpflichteten deutlich gesunken. Dies ist laut Schwedens Polizei darauf zurückzuführen, dass Abschiebungsanordnungen nach vier Jahren verjähren und dass in einer erheblichen Anzahl von Fällen aufgrund der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 eine Aussetzung der Vollstreckung erklärt wurde. Ende 2022 hatte die Polizeibehörde demnach rund 4000 offene Verfahren, Ende 2023 waren es nur noch 923.
Derzeit lebten viele Afghanen, die 2015 und 2016 nach Schweden gekommen seien, unter sehr schwierigen Bedingungen, darunter viele einst unbegleitete Minderjährige, sagt die leitende Rechtsberaterin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in Schweden, Madelaine Seidlitz. Die Menschen verlieren ihre Wohnung, ihre Arbeitserlaubnis, viele kommen auch in Haftzentren. „Sie befinden sich in einem permanenten Schwebezustand“, sagt Seidlitz. Viele der Personen müssten nun eigentlich nach Afghanistan zurückkehren, seien aber seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Einige gehörten Minderheiten an, viele hätten eine westliche Lebensweise angenommen, was ihre Chancen, in Afghanistan zu überleben, deutlich erschwere. Aufgrund der dortigen Menschenrechtslage sollte derzeit niemand gezwungen werden, nach Afghanistan zurückzukehren, sagt Seidlitz. Angesichts des Taliban-Regimes und der aktuellen Menschenrechtslage liefen bis auf wenige Ausnahmen alle, die nach Afghanistan zurückgeschoben würden, Gefahr, Opfer von Verfolgung zu werden, sagt Seidlitz.
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