Für die Nahost-Region ist es eine der schwierigsten Krisen in der neueren Geschichte“, so die Vertreterin der VAE bei einer der letzten Sitzungen im UN-Sicherheitsrat, in dem die Emirate gerade einen nichtständigen Sitz haben. Sie sprach sogar von einem „Test für die Menschheit“. Ein unkontrolliertes Abgleiten in einen regionalen Krieg, mahnte sie, könne sich auf die Stabilität in der ganzen Welt auswirken. Diese Sätze drücken ein Unbehagen aus, das auch die anderen arabischen Golfstaaten erfasst hat. Der Krieg in Gaza gefährdet ihre Zukunftspläne – die wiederum entscheidend sind für die Zukunft der gesamten Region.
Die Emirate, Saudi-Arabien, Katar, Bahrain oder Oman haben sich sehr lange Zeiten in einer Phase der Deeskalation gewähnt, die es ihnen erlaubt, sich darauf zu konzentrieren, Reformprogramme voranzubringen, die eine Zukunft jenseits der Öl- und Gaseinnahmen sichern sollen. Die Konflikte der Region wurden dabei aber bestenfalls beruhigt, nicht gelöst. Die Golfstaaten diversifizieren außerdem ihre strategischen Beziehungen, wollen sich nicht mehr klar auf die Seite der Vereinigten Staaten im Großkonflikt mit China und Russland stellen. Saudi-Arabien und dessen regionaler Erzrivale Iran hatten sich wieder angenähert. Doch der terroristische Großangriff der palästinensischen – seit vielen Jahren vom Regime in Teheran unterstützten – Hamas und der israelische Gegenschlag haben die Golfmonarchien jäh aus ihren Tauwetterträumen gerissen.
„Die Uhr läuft wieder rückwärts“, so Mohammed Baharoon, der Direktor der Denkfabrik Dubai Public Policy Research Center. „Das, was jetzt in der Region passiert, geht gegen alles, wofür die Emirate in den vergangenen Jahren gearbeitet haben.“ Die politische Führung in Abu Dhabi ist in einer heikleren Lage als jene in Saudi-Arabien oder Katar. Sie hatte im Zuge der Abraham Accords 2020 unter amerikanischer Vermittlung die Beziehungen zu Israel normalisiert, es ging um Wirtschaftspartnerschaft mit einem Hightech-Standort und die geteilte Bedrohung durch Iran. In den ersten Reaktionen auf den Hamas-Angriff klang Sympathie für Israel durch: Es wurden sogar Kondolenzanrufe mit Jerusalem geführt. Die Gegnerschaft gegen die Islamisten der Muslimbruderschaft, aus der die Hamas hervorgegangen ist, ist besonders in Abzug Dhabi zu spüren. Durch die Hamas-Massaker sehen sich die Emirate darin bestätigt. Das Kabinett der VAE verurteilte diese als „barbarisch und abscheulich“.
Die militärische Reaktion Israels in Gaza, das Dauerbombardement und die Tausende getöteter Zivilisten haben jedoch auch die Position in den Emiraten in Frage gestellt. Die Regierung in Abu Dhabi spricht von „Kollektivbestrafung“ der Palästinenser und nimmt damit eine Stimmung in der Bevölkerung auf. In arabischen Fernsehsendern laufen Schreckensbilder des Gazakrieges in Endlosschleife, auch die kontrollierte Presse berichtet ausführlich über das Leid der palästinensischen Zivilisten. In den sozialen Medien melden sich einflussreiche Persönlichkeiten mit scharfer Kritik zu Wort, und in Gesprächen mit Emiratis klingt tiefer Frust durch. Da fallen Sätze wie: „Natürlich sind die Angriffe der Hamas durch nichts zu entschuldigen, aber die israelische Regierung ist auch extremistisch.“
Die Friedensbemühungen mit Israel aufzukündigen wird von der emiratischen Führung allerdings nicht erwogen. Sie könne allerhöchstens eingefroren werden, heißt es. Regierungsvertreter sagen klipp und klar, die Entscheidung sei unumkehrbar, denn wenn die Führung eine Entscheidung gefällt hat, dann steht sie auch dazu. Die Normalisierung mit Jerusalem wird von zwei Säulen getragen: einer wirtschaftlichen, die trotz des Gazakrieges immer weiter ausgebaut word und einer politischen, die immer schwach gewesen ist und jetzt wohl noch schwächer wird. Weiterhin bleibt Iran die größte Bedrohung und strategische Herausforderung für die VAE.
Wenn aber der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu von einem „neuen Nahen Osten“ spricht, den der Krieg hervorbringen werde, dann muss das nicht zwingend heißen, dass sich die Emirate oder andere arabische Golfstaaten einem amerikanisch-israelischen Lager anschließen werden. Die bedingungslose amerikanische Unterstützung wird vor dem Hintergrund von Tausenden getöteter Zivilisten in Gaza sehr kritisch gesehen.
Auch die französische Forderung, eine internationale Koalition gegen die Hamas nach dem Vorbild der Allianz gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ zu schmieden, stößt in den Emiraten nicht auf Gegenliebe. „Auf der einen Seite heißt es, der Konflikt solle nicht regionalisiert werden, und dann fordert man, ihn zu internationalisieren – das ergibt keinen Sinn“, sagt Mohammed Baharoon. Die Führung habe das Wort Terrorismus in ihren Verurteilungen der Hamas nicht umsonst vermieden, erklärt er. Einer Anti-Terror-Koalition könne man sich schwieriger entziehen. Der Widerwille der Regierung, sagt Baharoon weiter, speise sich aus der Sorge, dass es zu religiöser Polarisierung und Radikalisierung kommt. Einen „Zusammenprall der Kulturen“ könne niemand wollen. Doch die Stimmung in der ganzen Region geht in diese Richtung.
Die starken Männer am Golf bringt der Gazakrieg hingegen wieder näher zusammen: Muhammad Bin Zayed Al Nahyan, Präsident der Emirate, und Muhammad Bin Salman Al Saud, Kronprinz von Saudi-Arabien. Das Verhältnis des emiratischen Herrschers zum saudischen De-facto-Herrscher galt zuletzt als angespannt. Jetzt heißt es aus regierungsnahen Kreisen in den Emiraten, der Widerwille Abu Dhabis gegenüber dem saudischen Vorstoß, im Jemen-Konflikt im Alleingang mit den von Teheran geförderten Huthi-Rebellen zu verhandeln, schwinde angesichts der Furcht vor einer regionalen Eskalation. Auch wenn dabei die Interessen jemenitischer Alliierter der Emirate außen vor gelassen werden.
Saudi-Arabien ist wie die Emirate zu einem Balanceakt gezwungen: Einerseits herrscht im Königreich ebenfalls Empörung über die israelische Kriegsführung im Gazastreifen. Und der öffentliche Druck auf die Führungen sowohl in Abu Dhabi als auch in Riad dürfte zunehmen, wenn die israelischen Bodenoperationen im Gazastreifen die Zahl ziviler Opfer weiter erhöht. Saudi-Arabien will zudem die Wiederannäherungsbemühungen an Iran nicht aufgeben. Prinz Turki al-Faisal, ein ehemaliger Geheimdienstchef, der zwar keinen Regierungsposten mehr innehat, der aber Mitglied der Herrscherfamilie ist, kritisierte zuletzt öffentlich „willkürliches“ Bombardement durch die israelische Luftwaffe. Und er gab zu verstehen, dass auch die saudisch-iranische Annäherung trotz der zunehmenden Spannungen mit Teheran nicht vom Tisch sei. Gleiches sagen Diplomaten über eine mögliche Normalisierung der Beziehungen zu Israel. Doch dürften die Verhandlungen darüber schwieriger und diskreter als bisher geführt werden.
Die saudische Führung ist entschlossen, trotz des Gazakrieges weiterzumachen wie bisher. Bei einem großen Investorenforum in der saudischen Hauptstadt trafen kürzlich Eliten zusammen, dem „Davos in der Wüste“. Auch der Kronprinz kam als Zuschauer. Khalid al-Falih, sein Minister, der für die Anwerbung ausländischen Kapitals zuständig ist, pries die Investitionsmöglichkeiten im Königreich, insbesondere in der futuristischen Megacity Neom. Aber auch er kam nicht umhin, „den Elefanten im Raum“ anzusprechen. Der Gazakrieg „überschattet alles andere“, sagte er an die Adresse der versammelten internationalen Wirtschaftsführer. „Aber zu ihrem Wohl und zum Wohl der Menschheit müssen wir den Kompass auf das Wohlergehen unseres Volkes ausrichten.“
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