Nach seiner Abschiebung wurde der aus Schweden abgeschobene Mahmut T. am Flughafen in Istanbul festgenommen. Videos zeigen, wie er in Handschellen zu einem weißen Fahrzeug gebracht wird. Von außen klopfen Leute an die verdunkelten Scheiben, rufen etwas. Doch das Auto fährt ab. „Terrorist ins Gefängnis geschickt“, titelte dazu ein türkischer Fernsehsender. T. hatte in Schweden Asyl beantragt, nachdem in der Türkei nach Terrorvorwürfen ein Verfahren gegen ihn eröffnet worden war. Zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wurde er verurteilt. Seiner Darstellung nach hatte er nur an Protesten teilgenommen. Schweden lehnte seinen Asylantrag ab. Zuletzt lebte der Kurde illegal im Land, erkrankte an Krebs. Trotzdem wurde er Ende letzten Jahres abgeschoben.
„Gäbe es die NATO-Bewerbung nicht, wäre T. nicht abgeschoben worden“, sagt die kurdische Gemeinde in Stockholm. Die schwedischen Behörden hätten wohl gegenüber der Türkei Härte demonstrieren wollen. Bis zu 150. 000 Kurden leben in Schweden, das Land galt lange als Zufluchtsort für die Minderheit. Doch seitdem Schweden die NATO-Mitgliedschaft beantragt hat, leben viele Kurden in Angst. „2022 war das bisher härteste Jahr für Kurden in Schweden“.
Der Fall T. hat die kurdische Gemeinde erschüttert. Aus der Sicht vieler steht er exemplarisch für den derzeitigen Kurs der schwedischen Regierung. Im Mai vergangenen Jahres beantragte Schweden zusammen mit Finnland angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft. Alle NATO-Staaten bis auf zwei ratifizierten die Erweiterung des Bündnisses: Ungarn stellte eine baldige Unterschrift in Aussicht, die Türkei aber weigert sich. Sie fordert Zugeständnisses Stockholms bei der Terrorbekämpfung. Das Nachbarland Finnland, ohne eine große Community an Türkei-kritischen Organisationen, wurde mittlerweile Mitglied des Verteidigungsbündnisses.In Schweden, einem Land mit langer demokratischer Tradition, gibt es nun die Sorge, dass sich das eigene Land verbiegen, dass es die Einhaltung menschenrechtlicher Prinzipien gegen einen Zugewinn an Sicherheit eintauschen könnte.
Schweden verhalte sich „unterwürfig“, mache Zugeständnis um Zugeständnis. Doch je mehr das Land nachgebe, desto mehr Druck werde Erdogan machen, schrieb die Tageszeitung „Dagens Nyheter“ kürzlich. Sie verglich schwedische Minister mit „Hundewelpen“, die versuchten, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu gefallen. Ministerpräsident Ulf Kristersson widersprach dem Vorwurf deutlich: Schweden beuge sich nicht der Türkei, die Zusammenarbeit sei zum Vorteil beider Seiten.
Gemeinsam mit Finnland hat Schweden ein Memorandum mit der Türkei unterzeichnet, in dem sich die beiden Staaten unter anderem verpflichten, verstärkt gegen die kurdische „Terrororganisation“ PKK vorzugehen und Auslieferungsbegehren der Türkei gründlich zu prüfen. Das schwedische Parlament beschloss eine Verfassungsänderung, die es ermöglichen soll, strengere Antiterrorgesetze zu verabschieden. Weiterhin wurden Waffenexporte an die Türkei wieder erlaubt. Schon kurz nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten war Kristersson nach Ankara gereist und hatte gesagt, Schweden werde allen Verpflichtungen nachkommen, die es gegenüber der Türkei eingegangen sei, um der terroristischen Bedrohung entgegenzutreten.
Erdogan warf Schweden wiederholt vor, Terrororganisationen zu unterstützen, und forderte es auf, „Terroristen“ auszuliefern. Deren Namen veröffentlichten türkische regierungsnahe Zeitungen. Darunter finden sich angebliche PKK-Unterstützer und Mitglieder der Gülen-Bewegung. Die Zahlen variieren, doch rund 40 Namen von Personen in Schweden sind bekannt. Allerdings sind die meisten davon schwedische Staatsbürger oder haben eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Wohl auch deswegen sagte Kristersson jüngst, die Türkei stelle Forderungen, „die wir nicht erfüllen können und wollen“.
Zuletzt bewegten sich beide Seiten auseinander. Ankara empörte sich über eine Erdogan-Puppe vor dem Stockholmer Rathaus. Schwedens Regierung verurteilte das Aufhängen der Puppe scharf, doch kurz darauf nannte der Chef der rechtspopulistischen Schwedendemokraten, welche die Minderheitsregierung stützen, Erdogan einen Diktator. Vor allem bei den Auslieferungen gibt es keine Annäherung. So untersagte die schwedische Regierung zuletzt die Auslieferung von vier Personen. Grundlage waren Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, denen die Regierung folgen muss. Zuvor war auf diese Weise bereits die Auslieferung des Journalisten Bülent K. gestoppt worden, den Erdogan als Terroristen bezeichnet hatte.
Auch die Auslieferung des bekannten türkischen Verlegers Ragip Zarakolu, dessen Name ebenfalls auf der türkischen Liste steht, hatte der Oberste Gerichtshof untersagt. Der 75 Jahre alte Zarakolu setzt sich seit Jahrzehnten für die Meinungsfreiheit in der Türkei ein. Er hatte einst Bücher über die Kurdenfrage und den Genozid an den Armeniern verlegt, mehrmals kam er deswegen ins Gefängnis. Immer noch liefen mehrere Verfahren gegen ihn, sagt Zarakolu. „Erdogan denkt wohl, in Schweden laufe es wie in der Türkei: Wenn du in der Regierung bist, kannst du alles tun.“ Er fühle sich in Schweden sicher, sagt Zarakolu, die Gerichte seien schließlich unabhängig. Doch er sorgt sich, dass die Regierung zu weit auf Ankara zugehen könnte.
Auslieferungen seien nicht das Problem, die Justiz stehe diesen entgegen, sagen schwedische Juristen. Seit 2005 habe Schweden niemanden mit Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur PKK an die Türkei ausgeliefert. Das eigentliche Problem seien Abschiebungen von türkischen Asylbewerbern. Die gebe es seit Langem, nun aber würden sie instrumentalisiert. Die türkischen Behörden wollten sie als Auslieferungen darstellen. Bei T. etwa habe es etwa geheißen, endlich habe Schweden geliefert. Und Schweden habe nur ein geringes Interesse daran, diesem Bild entgegenzuwirken, um so den Prozess des NATO-Beitritts zu beschleunigen. Zudem habe Schweden in dem Memorandum versprochen, stärker gegen die PKK vorzugehen. „Unter Kurden gibt es deswegen eine große begründete Sorge vor mehr Abschiebungen.“
Schweden gilt als Vorzeigedemokratie. Asylbewerber erhalten von Anfang an einen Anwalt, können negative Entscheidungen vor Gericht anfechten. Grund für eine Ablehnung ist allerdings oftmals eine Einschätzung des schwedischen Inlandsgeheimdienstes Säpo. Heißt es von diesem, eine Person stelle ein „Sicherheitsrisiko“ dar, wird der Antrag meist negativ beschieden. Die Gründe der Einschätzung sind geheim, auch die Gerichte können sie nicht einsehen. So bleibt diesen meist wenig anderes übrig, als der Begründung zu folgen.
Dass die Einschätzung der Säpo nicht überprüft werden könne, sei in rechtlicher Hinsicht problematisch. Das Verfahren sei dadurch weder sicher noch zuverlässig. Ähnlich äußert sich die schwedische Menschenrechtsorganisation „Civil Rights Defenders“. Sie spricht von einem „schwerwiegenden Mangel an rechtlicher Überprüfbarkeit, der in der gegenwärtigen Situation noch einmal besorgniserregender“ sei. Man erinnert daran, dass auch Schweden dem Prinzip des Non-Refoulement folgen müsse und nicht Personen in ein Land bringen dürfe, wo diese der Gefahr von Folter oder anderen unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt seien. In der Türkei könne „potentiell jeder aus jedem beliebigen Grund als Terrorist definiert werden“.
Die rechtliche Schwachstelle im Asylsystem, so die Sorge der Menschenrechtsaktivisten, könne zu mehr Abschiebungen führen. Einerseits um der Türkei zu signalisieren, dass man sich gerade in Bezug auf die PKK bewege. Andererseits aber auch im Kontext des ohnehin härteren Vorgehens gegen Asylbewerber unter der neuen Regierung. In Schweden regiert seit dem Herbst eine Minderheitsregierung, die von den Schwedendemokraten gestützt wird. Migration sorgt aus ihrer Sicht für Kriminalität und muss möglichst abgestellt werden. Geplant ist etwa, das dauerhafte Aufenthaltsrecht abzuschaffen, die Rechte von Asylbewerbern zu beschneiden und die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen.
Viele der Kurden kamen als Asylbewerber und hangeln sich von einer Aufenthaltsrechtsverlängerung zur nächsten. Auch die kurdische Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, tat das lange. Ihr Mann kam 2002 ins Land, also noch zu den guten Zeiten, und erhielt ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Sie kam 2016 nach. Zusammen haben sie zwei Söhne, sieben und fünf Jahre alt. Irgendwann wurde die Aufenthaltserlaubnis der Frau nicht mehr verlängert, sie klagte erfolglos dagegen. Kürzlich hätten Polizisten an ihre Türe geklopft und sie zur Ausreise aufgefordert, sagt die Frau.
In einem Schreiben der Migrationsbehörde heisst es, die Säpo habe empfohlen, den Antrag der Frau auf eine Aufenthaltserlaubnis abzulehnen. Die Begründung: Ihr Mann unterstütze „sicherheitsgefährdende Aktivitäten“. Die Sicherheitsbehörde gehe davon aus, dass die Frau, „möglicherweise indirekt“ die Aktivitäten der Organisation unterstütze. Nicht ihr Verhalten sei eine Bedrohung, sondern ihre „Anwesenheit im Land“. Der Mann sagt dazu, er habe im Internet einst die Aktivitäten der PKK gutgeheißen. Die Frau aber fragt, warum müsse sie dann gehen? Sie hält sich nun illegal im Land auf, lebt in einer anderen Wohnung als ihre Familie. Die Situation sei sehr schwer, sagt sie. Ihre Kinder und ihren Mann sehe sie nur unregelmäßig. „Wir zahlen den Preis für die NATO-Bewerbung Schwedens“, sagt ihr Mann.
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research and Study Center vorbehalten.