Ein Sudanese hat den spanischen Innenminister beim Wort genommen. Dieser hatte afrikanische Migranten aufgefordert, ihr Leben nicht auf dem Meer oder an einem Grenzzaun zu riskieren. Sie sollten stattdessen in einer spanischen Vertretung um internationalen Schutz ansuchen. Der Sudanese hat es als Erster und Einziger geschafft: Der 25 Jahre alte Christ aus Süd-Kordofan drang bis an die Tür der spanischen Botschaft in der marokkanischen Hauptstadt Rabat vor und bat dort um Asyl.
Eineinhalb Jahre lang kämpften er und seine beiden spanischen Anwälte, bis er endlich in Madrid landen durfte. „Ein Sieg für alle Flüchtlinge, der erst unmöglich wirkte“, sagt der Sudanese nach seiner Ankunft im Mai. Er, der seit mehr als zehn Jahren auf der Flucht ist, hat mit seiner Hartnäckigkeit ein Kapitel spanischer Rechtsgeschichte geschrieben – und am eigenen Leib erlebt: Aus Nordafrika nach Spanien zu gelangen ist für Schutzsuchende aus Afrika auf legalem Weg praktisch unmöglich.
Am 24. Juni 2022 war er schon einmal kurz auf spanischem Boden. Er gehörte zu den etwa 2.000 afrikanischen Migranten – die meisten aus Sudan –, die damals versucht hatten, den Grenzzaun zu überwinden, der die zu Spanien gehörende Mittelmeerexklave Melilla vom marokkanischen Staatsgebiet trennt. Doch
Spanien tut sich bis heute sehr schwer damit, den tödlichen Vorfall am Grenzzaun der spanischen Exklave in Nordafrika aufzuarbeiten. Die dortige Sperranlage wurde zu einer tödlichen Falle. Mindestens 23 Migranten kamen ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Bis heute werden etwa siebzig Menschen vermisst. Marokkanische und spanische Sicherheitskräfte hinderten die Migranten gewaltsam daran, auf die spanische Seite zu kommen, wo es weiter in die EU geht. Laut Recherchen von Menschenrechtlern waren es viel mehr Tote; manche sprechen deshalb vom „Massaker von Melilla“. Eine neue Untersuchung der unabhängigen Organisation Border Forensics erhebt schwere Vorwürfe gegen die Grenzpolizisten beider Staaten: Sie seien für Gewaltexzesse gegen Schutzsuchende verantwortlich. Die Organisation wirft den marokkanischen Sicherheitsbehörden unter anderem vor, die Migranten aus den Wäldern im marokkanischen Hinterland vertrieben zu haben. Daraufhin seien diese zum Berg Gourougou gezogen, der etwa 15 Kilometer vom Grenzübergang entfernt ist. Am 23. Juni, einen Tag vor dem tödlichen Vorfall, hätten Sicherheitskräfte sie auch vom Gourougou vertrieben, woraufhin die Migranten in Richtung Melilla aufgebrochen seien.
Bereits zwei Stunden vor dem Ansturm auf den Grenzzaun haben nach Angaben von Border Forensics sowohl Marokko als auch Spanien Sicherheitskräfte rund um den Grenzposten stationiert; den Ansturm gestoppt hätten die marokkanischen Behörden jedoch nicht. So soll es zur tödlichen „Falle“ am Grenzübergang gekommen sein: Als die Migranten in einen geschlossenen Hof des Grenzpostens vorgedrungen waren – der zwar unter marokkanischer Kontrolle steht, aber größtenteils auf spanischem Territorium liegt –, seien marokkanische und spanische Sicherheitskräfte unter anderem mit Tränengas gegen sie vorgegangen.
Das habe eine Massenpanik ausgelöst, da die Menschen den Hof nicht verlassen konnten, und „sicher zu den ersten Toden in diesem Massaker geführt“, so die Organisation. Zudem geht aus der Untersuchung hervor, dass Beamte der spanischen Guardia Civil die Gewalt der marokkanischen Sicherheitskräfte mitbekommen haben müssen, wie Border Forensics anhand von Videoaufnahmen, einer 3-D-Rekonstruktion des Grenzübergangs und Zeugenaussagen unter anderem von Guardia-Civil-Mitarbeitern darlegt.
Der Bericht beeindruckte jedoch weder Rabat noch Madrid. Ende Juni stellte die marokkanische Generalstaatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ein. Die Untersuchungen hätten gezeigt, dass die Polizeiaktion dazu diente, „die Ordnung mit einem verhältnismäßigen Einsatz von Gewalt aufrechtzuerhalten, trotz des aggressiven und gewalttätigen Charakters der Migranten, ihrer großen Anzahl und ihrer Bewaffnung mit Stichwaffen“, heißt es in dem Beschluss laut Presseberichten. In Spanien waren die Ermittlungen schon Ende 2022 eingestellt worden: Die Grenzpolizisten hätten „verhältnismäßig und legal“ angesichts eines brutalen Ansturms gehandelt, heißt es auch von spanischer Seite. Dem hat das spanische Innenministerium auch nach der neuen Untersuchung auf Nachfrage nichts hinzuzufügen: Die Guardia Civil habe mit „absolutem Respekt vor den Menschenrechten“ gehandelt, zu den Todesfällen sei es nur auf marokkanischem Gebiet gekommen.
Der Bericht von Border Forensics ist nicht die erste Recherche, die die offizielle Untersuchung infrage stellt. In einer Dokumentation des britischen Senders BBC zeigten schon 2022 Videoaufnahmen vom Tag des Geschehens leblose Körper auf der spanischen Seite der Absperrung. Laut der spanischen Polizei kamen bei der Massenpanik nur Menschen im „Niemandsland“ innerhalb der Grenzanlagen ums Leben. In dem Film ist zudem zu sehen, wie marokkanische Beamte am Zaun Migranten aus Spanien nach Marokko zurückbringen. Ein von der BBC befragter Afrikaner sagte, er sei von marokkanischen Polizisten danach stundenlang bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen worden. Ende 2022 hatte der Ombudsmann des spanischen Parlaments den Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und der Darstellung des spanischen Innenministeriums widersprochen. In seinem Bericht stellte er damals fest, dass marokkanische Polizisten spanisches Territorium betraten und dass spanische Beamte ihnen die abgefangenen Personen übergaben. Aber in Madrid scheint es kein Interesse zu geben, sich noch einmal mit Melilla und den Folgen auseinanderzusetzen.
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research Center vorbehalten.