Ein Schweizer „Experte“ versucht, die extremistische Muslimbruderschaft zu bagatellisieren und trifft auf wenig Protest von Politikern. Es ist ein Herr Willi, um den es hier geht. In einer Diskussionssendung des Schweizer Radios und Fernsehens (SRF) tritt er auf, als Experte des von ihm geleiteten, privaten Middle East Institute Switzerland in Genf. Thema war „Terror und Krieg im Nahen Osten: Was muss die Schweiz tun?“ Eine zentrale Frage der Folge ist, ob die Hamas eine Terrororganisation sei, die man verbieten müsse. „Die Hamas“, so erklärt Willi dem Schweizer Publikum, „ist gemäss eigener Charta von 2017 eine palästinensische nationale und islamische Befreiungs- und Widerstandsbewegung.“ „Teile“ dieser islamistischen Bewegung hätten „terroristische Elemente, aber es ist schwierig, sie insgesamt als Terrororganisation einzustufen. Sie ist 2006 demokratisch gewählt worden, hat viele, auch säkulare und liberale Anhänger, kümmert sich um Müllabfuhr, Spitäler und Schulen.“ In dem TV-Talk befinden sich auch namhafte Politiker der großen Parteien in der Schweiz, weder sie noch der Moderator hinterfragen die Aussagen des Experten des von ihm gegründeten Thinktanks.
Es gab auch keine Proteste, als Willi für den Terroranschlag vom 7. Oktober nur den militärischen Arm der Hamas verantwortlich macht, oder als er erklärt, die Hamas habe sich zwischen 1988 und 2017 gemässigt und sei eigentlich bereit, die Grenzen Israels von 1967 zu akzeptieren, auch wenn sie gleichzeitig zur Vernichtung des „zionistischen“ Staates aufruft.
Ein Zuschauer der Sendung fand die Äusserungen von Willi jedoch derart deplatziert, dass er eine Beschwerde bei der Ombudsstelle der SRG Deutschschweiz einreichte. Die SRG-Ombudsstelle ist nicht dafür bekannt, leichtfertig Rügen zu verteilen. Doch in diesem Fall hat sie dem Zuschauer kürzlich in wesentlichen Punkten recht gegeben. Willi habe die Hamas mehrmals verharmlost, er sei zu Recht als „Fürsprecher“ der Islamisten wahrgenommen worden. So gebe es keine Beweise, dass sich die Hamas gemässigt habe – und es stimme auch nicht, dass sie Israels Grenzen von 1967 akzeptiere.
In Wirklichkeit hat die Hamas 1988 und 2017 Grundsatzpapiere veröffentlicht, die sich zumindest in der Tonlage unterscheiden. Ein Text von 1988 ist von antisemitischen Verschwörungstheorien und Aufrufen zum Mord durchzogen, dort heisst es: „Die Stunde wird kommen, da die Muslime gegen die Juden so lange kämpfen und sie töten, bis sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken. Doch die Bäume und Steine werden sprechen: ‚Oh Muslim, oh Diener Allahs, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt. Komm und töte ihn!‘“ Die Hamas-Charta von 2017 dagegen verzichtet auf derartige Aufrufe. Stattdessen zitieren die Islamisten modische Wörter wie Kolonialismus, Diskriminierung und Unterdrückung. Sogar Aggressionen verurteilt die Hamas offiziell. Im Grundsatz hält sie jedoch fest, Israel müsse zerstört werden, weil das Land den Palästinensern und vor allem den Muslimen gehöre. Die Grenzen von 1967 werden zwar erwähnt. Aber sie werden nur insofern akzeptiert, als auf dem damaligen und heutigen israelischen Gebiet ein palästinensischer Staat errichtet werden soll, „vom Jordan im Osten bis zum Mittelmeer“.
Wie kommt ein Experte dazu, die Radikalität der Hamas in einer der wichtigsten Polit-Sendung der Schweiz zu relativieren? Willi hat in Zürich und Oxford studiert und dort eine Doktorarbeit über die Muslimbruderschaft verfasst. Das Middle East Institute Switzerland, das er 2021 in Genf gegründet hat, hat sich der Beratung von Regierungen, Firmen und internationalen Organisationen verschrieben, die sich für den Nahen Osten und Nordafrika interessieren. Auf der Website des privaten Think-Tanks werden 18 Mitarbeiter aufgeführt. Zwei von ihnen haben für al-Jazeera gearbeitet, das mit der Hamas sympathisiert. Ein weiterer Mitarbeiter hat einen Artikel veröffentlicht, in dem er um Verständnis für den Hamas-Financier Katar wirbt (Titel: „Katar verurteilen ist kontraproduktiv“). Posts in den sozialen Medien lassen auf eine eher „israelkritische“ Haltung der Mitarbeiter schliessen.
Meinungen wie die des selbsternannten Experten sind wieder vermehrt zu hören in Statements von Menschen, die die extremistischen und islamistischen Tendenzen innerhalb der Muslimbruderschaft relativieren wollen. Sie säen Zweifel über die Gefährlichkeit der Muslimbruderschaft und ihres Ablegers Hamas. In Willis Doktorarbeit streicht er die zentrale Rolle des Judenhasses in der Ideologie der Muslimbruderschaft nur ungenügend heraus. Vielmehr bemüht er sich redlich, westliche Kritiker der Muslimbruderschaft in die Nähe von Populisten und Verschwörungstheoretikern zu rücken. 2021 schrieb er in einem Beitrag für ein deutsches Magazin, vor allem „Anhänger des rechtskonservativen, identitären Spektrums“ hielten die Muslimbrüder für gefährlich. Teile der „westlich-liberalen“ Welt sähen die Brüder dagegen als eigentliche Demokraten, die mit der CDU vergleichbar seien. Schliesslich sei auch die deutsche Partei „aus einem rechtsgerichteten sozialen Konservatismus entstanden“, bevor sie sich durch Einbindung in die Institutionen „gemässigt“ habe. Willi weist zwar darauf hin, dass die Hamas „absolut terroristische Elemente“ habe, vor allem in den Al-Kassam-Brigaden. Aber er verzichtet darauf, darüber aufzuklären, was die Hamas unter „Befreiung“ versteht. Dabei sind ihre Taten und ihre Aussagen von brutalster Klarheit – selbst wenn sie sich um die Abfallentsorgung kümmert. Und die Verharmlosung der Muslimbruderschaft als Hauptideologie eines Islam, der nicht nur Juden vernichten will, sondern auch Homosexuellen den Tod wünscht und die Gesetze der Scharia über staatliche Gesetze in einem säkularen Gemeinwesen stellt – das dies Platz hat in einer TV-Sendung in Europa, ist mehr als fragwürdig.
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