Schweden und Finnland hatten kurz vor der Nato-Ratssitzung am Mittwochmorgen offiziell die Aufnahme in das Verteidigungsbündnis beantragt, doch die Türkei blockierte den Beginn des Verfahrens vorerst. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat zuvor mehrfach deutlich gemacht, dass er einem Beitritt Finnlands und Schwedens nicht zustimmen will.
Was ist der Hintergrund der Absicht der Türkei? „Die skandinavischen Länder sind Herbergen für Terroristen“, sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Freitag auf seine Weise und bezog sich dabei auf Finnland und Schweden. Er „sieht die Mitgliedschaft nicht als etwas Positives“. Und am Montag fuhr der Präsident fort: Als der finnische und der schwedische Außenminister sagten, sie würden in die Türkei kommen, um das Thema zu besprechen, sagte er: „Es tut mir leid, Sie sollten sich nicht die Mühe machen. Wir werden nicht ja sagen.“
Nato- und EU-Vertreter kennen den türkischen Staatschef. Er ist berüchtigt dafür, große Wetten zu spielen, harte, manchmal unmögliche Forderungen zu stellen und sie ungeniert fallen zu lassen, wenn es in seinem eigenen Interesse ist. Es ist daher wahrscheinlicher, dass Ankara am Ende in der Nato-Frage nachgibt. Das Zerren könnte hart werden und die Türkei als unsicherer Partner in der NATO diskreditiert werden. Aber am Ende kann das Land es sich nicht leisten, das westliche Bündnis als uneins mit Russland und handlungsunfähig erscheinen zu lassen. Das Internetportal T24 kritisierte bereits, dass Erdogans Getöse im Vorfeld der anstehenden Wahlen 2023 rein innenpolitischer Natur sei: „Es geht um ein paar Extrastimmen, nicht um die Interessen des Landes.“
Ein ehemaliger türkischer Diplomat, der selbst Botschafter in Schweden war, sagte kürzlich: „Die traditionelle Politik der Türkei als Nato-Staat war immer, die Erweiterung des Bündnisses voranzutreiben. Aber wenn der Präsident nach der Freitagspredigt die Moschee verlässt, sagt er oft ziemlich impulsive Dinge . Er bestätigt nicht immer die offizielle außenpolitische Linie Ankaras.“ Solche Äußerungen seien von Erdogan für den innenpolitischen Markt gedacht: „Die Türken sind zutiefst antiamerikanisch und anti-EU“, sagte der Diplomat. „Sie lieben es, wenn ihre Regierung gegen die USA oder Europa vorgeht.“
Nicht zuletzt dürften die in den türkischen Medien kritisierten innenpolitischen Motive für Erdoğan die größte Rolle spielen. Das politische Klima im Land wird eisiger, die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition werden härter, und die schlechte Wirtschaftslage kostet Erdoğan die Unterstützung der Wähler. In der diversen Wählerschaft könnte das Image einer souveränen Türkei, die von den anderen Nato-Staaten umworben werden muss, dem Präsidenten möglicherweise Rückenwind bei den anstehenden Wahlen 2023 geben.
Trotz Gesprächen mit den USA hält die Türkei an ihrer Position fest, den Nato-Beitrittsprozess Finnlands und Schwedens zu blockieren. Er habe US-Außenminister Antony Blinken die Position der Türkei zur Norderweiterung des Militärbündnisses deutlich gemacht, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Mittwochabend nach einem Treffen mit Blinken der türkischen Presse. Grundsätzlich bewertete Cavusoglu die Gespräche mit seinem US-Kollegen aber als „äußerst positiv“. Blinken sagte, die Bedenken der Türkei seien legitim, betonte Cavusoglu.
Die US-Regierung zeigte sich am Mittwoch optimistisch, dass der Widerstand der Türkei überwunden werden könne. Der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, sagte am Mittwoch, er sei „zuversichtlich“, dass „die Bedenken der Türkei“ angegangen werden könnten und dass die beiden nordischen Länder schließlich dem westlichen Verteidigungsbündnis beitreten könnten. „Wir haben ein sehr gutes Gefühl, wohin das führen wird.“
Beim Nato-Rat am Mittwochmorgen blockierte die Türkei die Aufnahme von Beitrittsgesprächen. Nach Informationen aus Bündniskreisen äußerte Ankara bei dem Treffen Sicherheitsbedenken und machte deutlich, dass man sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht einigen könne.
Ein Sprecher des Bündnisses wollte sich zu den Gesprächen im Nato-Rat nicht äußern. Er betonte lediglich, dass Generalsekretär Jens Stoltenberg entschlossen sei, eine schnelle Lösung für Finnland und Schweden zu finden. „Beide Länder sind unsere engsten Partner, und ein NATO-Beitritt würde die euro-atlantische Sicherheit stärken“, sagte er.
Erdogan hat derweil wieder öffentlich deutlich gemacht, dass er die Zustimmung zum Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands davon abhängig macht, in Sicherheitsfragen auf sein Land zuzugehen. Für die Türkei gehe mit der Nato-Erweiterung der Respekt vor ihren Interessen einher, sagte er in einer Rede vor seiner konservativ-islamischen Regierungspartei AKP in Ankara.
Schweden und Finnland wollten weiterhin „terroristische Organisationen“ unterstützen, kritisierten aber gleichzeitig die Zustimmung der Türkei zur Nato-Mitgliedschaft, meinte Erdogan. „Das ist, gelinde gesagt, ein Widerspruch.“
Erdogan beschuldigte Schweden, sich geweigert zu haben, 30 „Terroristen“ auszuliefern. „Die NATO ist ein Sicherheitsverband. Insofern können wir nicht ja sagen, diese Sicherheitsbehörde unsicher zu machen“.
Erdogan bezeichnet Anhänger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die auch in den USA und Europa als Terrororganisation gilt, als „Terroristen“. Auch die Türkei sieht die Kurdenmiliz YPG in Syrien als Terrororganisation – für die USA hingegen ist die YPG in Syrien ein Verbündeter.
Bis vor kurzem war unklar, wie die Türkei daran gehindert werden könnte, ein Veto gegen die Nato-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands einzulegen. Neben Äußerungen der beiden skandinavischen Länder zum Kampf gegen den Terrorismus könnten laut Diplomaten auch Waffengeschäfte eine Rolle spielen. Die Regierung in Ankara etwa will F-16-Kampfjets in den USA kaufen – doch ein möglicher Deal war zuletzt in Washington politisch umstritten.
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