Selten hat eine Kommunalwahl Börsen- und Finanzanalysten so bewegt wie die Regionalwahlen in der Türkei: „Vermutlich das beste Ergebnis für den Markt. Demokratie bestätigt, Realitätscheck für Erdogan.“ So wurden viele Kommentare der Börsianer abgegeben. Sie meinen zudem, dass es nun keinen anderen Ausweg für den türkischen Präsidenten gebe, als den Kurs von Finanzminister Mehmet Simsek zu stützen und die Inflation zu beseitigen.
Leider sind solche Aussagen schnell gemacht, denn die türkische Bevölkerung muss sich, egal welchen Finanzkurs die Regierung in Ankara macht, auf weitere Preissteigerungen einstellen.Als das Statistikamt seine Märzdaten für die Kosten für die Lebenshaltung veröffentlichte, sahen die Menschen vor Ort bestätigt, was sie beim Blick ins Portemonnaie schon wissen: Sie sind wieder ein Stück ärmer geworden. Seit dem Höchststand 2013 ist BIP je Kopf der Bevölkerung zu aktuellen Preisen laut Weltbank von 12.578 auf 10.661 USD gesunken. Das ist ein Minus von 15 Prozent. Das mit billigem Geld gepushte Wirtschaftswachstum hilft dagegen wenig.
Die Inflation erreichte nach 67,1 Prozent im Februar nun einen Wert von knapp 70 Prozent. In Istanbul, wo etwa ein Fünftel der 85 Millionen Türken lebt, lag sie laut der lokalen Wirtschaftskammer bei 78,25 Prozent. Dass die amtlichen Daten seit einer Neubesetzung im Statistikamt unter den Istanbulern liegen, hat das Vertrauen in die amtlichen Zahlen nicht gestärkt. Auch mit dem Zutrauen in den neuen Kurs samt neuer Notenbankführung und von 8,5 Prozent auf 50 Prozent katapultierten Leitzinsen seit der Präsidentenwahl ist es nicht weit her. Analysten sind sich zwar einig, dass die zu späte Bekämpfung der Inflation und die wachsende Verarmung der Gesellschaft Hauptgründe für Erdogans Wahlniederlage sind. Er sagte zwar: „Wenn wir einen Fehler gemacht haben, werden wir ihn in den kommenden Jahren beheben.“ Das ließ aber offen, welche „Fehler“ er meinte. Über Jahre hatte er Zinssteigerungen zur Bekämpfung der Geldentwertung verhindert, nach Meinung vieler Ökonomen ein Grund für die heutige Inflation, die seit Jahren stark abwertende Währung und das klaffende Loch in der Leistungsbilanz. Wiederholte verbale Unterstützung für sein neues Team hat nicht nur die Analysten der Commerzbank und der DZ Bank bis heute nicht überzeugt.
An solche Skeptiker adressiert waren denn auch die Stabilitätssignale, die die Architekten der neuen Wirtschaftspolitik, Vizepräsident Cevdet Yilmaz und Finanzminister Simsek, aussandten: Man werde das beschlossene Programm „entschlossen weiter umsetzen, indem wir es stärken“, sagte der Finanzminister. Yilmaz versprach, auch der Staat werde sparen, und die Öffentlichkeit „in der zweiten Jahreshälfte“ sehen, dass man die Inflation in den Griff bekomme. Anzeichen gibt es: Anders als bei Lebensmitteln scheint der Markt für Kaufimmobilien, auf dem auch viele Ausländer unterwegs sind, die ärgsten Übertreibungen überwunden zu haben. Überdies versprach der Vizepräsident Strukturreformen, um die öffentliche Verwaltung effizienter zu machen, demokratische Standards zu erhöhen und „ein effektiver funktionierendes Justizsystem zu schaffen“. Das sind alles Punkte, die schon lange auf der Wunschliste von Investoren stehen. Auch derjenigen aus Deutschland, dem wichtigsten Exportziel der Türkei. Aus Sicht deutscher Unternehmer sollte die wirtschaftspolitische Neujustierung mit Inflationsbekämpfung und Haushaltskonsolidierung fortgesetzt werden. Das würde das Vertrauen in die Türkei als Investitionsstandort stärken. Bis zur nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Jahr 2028 bestehe laut ausländischer Experten nun die Möglichkeit, eine wirtschaftspolitische Reformagenda für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum umzusetzen.
Die türkische Geschäftswelt, mit politischen Statements sonst eher verhalten, funkt auf gleicher Wellenlänge. Der Industrie- und Unternehmerverband (TÜSIAD) benannte indirekt Defizite, indem er sich für Strukturreformen aussprach, die die Wirtschaft, Demokratie und unser Rechtssystem stärken könnten. Das Ziel müsse eine „fortschrittlichere, respektablere, fairere und umweltfreundlichere Türkei“ sein. Die Union der Kammern und Warenbörsen (TOBB), mahnte detailliert Verbesserungen an in der Berufsbildung, Beschäftigungs- und Steuerpolitik, des Rechtsstaates und zur „Stärkung der institutionellen Infrastruktur“. Das dürfte abzielen auf fallweise Eingriffe Erdogans in formal unabhängige Institutionen wie die Justiz, die Notenbank oder das Statistikamt, die in den vergangenen Jahren zur Norm geworden waren.
Der seit Sommer vergangenen Jahres verfolgte neue, klassischen Regeln der Volkswirtschaft folgende finanzpolitische Kurs hat bei Finanzinvestoren und Ratingagenturen zu einer Verbesserung der Einschätzungen geführt, die Lebenswirklichkeit der Menschen aber noch nicht verbessert. Notenbank und Regierung stecken in einem Dilemma: Bekämpfen sie die Inflation mit noch stärkeren Zinserhöhungen, so würgen sie die Kreditnachfrage und Wachstum ab, erhöhen Arbeitslosigkeit und Armut. Banken, die auf Beständen mit niedrig verzinslichen Anleihen sitzen, drohten hohe Abschreibungen. Auf der anderen Seite wird die Inflation genährt über die angepassten Mindestlöhne und Renten und die steigenden Preise für in Euro und Dollar zu zahlende Importe. Die hohe Devisennachfrage schwächt die Lira und untergräbt das Vertrauen in die Landeswährung, die im Verlauf des vergangenen Jahres 40 Prozent ihres Wertes eingebüßt hat.
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