Vielen in Europa lebende Türken ist es ein Rätsel, warum ihre türkischen Mitbewohner in Deutschland, Österreich oder den Benelux-Staaten mehrheitlich für den Autokraten Erdogan gestimmt haben bei den letzten Wahlen. Auch sie müssen zumindest gehört haben, wie der Sultan in Ankara und sein System mit Kritikern umgeht!
Man stelle sich vor, in den bekannten Politsendungen im europäischen TV würde ein Regierungsskandal aufgedeckt werden – und die Macher müssten daraufhin ihr Land verlassen. So ergeht es vielen Journalisten in der Türkei. Sie können nicht mehr zurück in ihre Heimat und leben seit einigen Jahren im westlichen Exil. Warum? Sie haben es gewagt, ihren Job zu machen.
Viele dieser Exilanten setzten große Hoffnungen in die jüngsten Wahlen in der Türkei. Sie wurden herbe enttäuscht. Erdogan erhielt von denjenigen, die in in Zentraleuropa als türkische Staatsbürger an der Wahl teilnahmen, bis zu zwei Drittel der Stimmen. Sie wählten einen Despoten, während sie hierzulande alle Vorzüge der liberalen Demokratie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Beides ist ihr Recht. Doch nehmen sie damit bewusst in Kauf, dass in den nächsten Monaten und Jahren noch viele Menschen nach Europa kommen, weil sie in der Türkei schikaniert, bedroht oder unter fadenscheinigen Gründen angeklagt werden. Denn von Erdogan kam auch nach dieser Wahl kein versöhnendes Wort, im Gegenteil. Das lässt Schlimmes erahnen.
Im Westen ist das Problembewusstsein für diese Gemengelage eher bescheiden. Tatsächlich ist die Situation nicht einfach. Denn zum einen tritt die türkische Regierung die Demokratie und Freiheit vieler Menschen mit Füßen. Zum anderen ist das Land Teil der NATO und Wirtschaftspartner. Doch das kann nicht bedeuten, beide Augen vor dem zu verschließen, es wäre schon mal ein Anfang, zumindest ein Auge zu öffnen.
Das wäre bitter nötig, um die in Europa lebenden Gegner des Erdogan-Regimes zu schützen, die sich für eine demokratische Türkei einsetzen. Der lange Arm Erdogans darf sie hier nicht erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, in westeuropäischen Großstädten auf Anhänger – auch fanatische Anhänger – Erdogans zu treffen, von ihnen beleidigt, bedroht und angegriffen zu werden, ist keineswegs gering. Schon wer sich in Berlin in ein „falsches“ Taxi setzt, kann sein blaues Wunder erleben. Soll man in Deutschland nun tatsächlich Taxis meiden – nur, weil man für Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit eintritt? Immer mehr Bürger türkischer Herkunft fragen sich, ob sie sich hier, auch zum Schutz ihrer Familie, selbst zensieren müssen.
Tatsächlich schreitet die gesellschaftliche Spaltung nicht nur in der Türkei voran, sondern auch hier im Westen. Türkeistämmige werden attackiert und bedroht, sobald sie sich mit einer kritischen Meinung in den Strukturen von der Türkei verbundenen Verbänden oder Vereinen oder in mehrheitlich türkisch geprägten Sozialräumen bewegen. Oder sie laufen Gefahr, über eine berüchtigte App der Zentralbehörde der türkischen Polizei als vermeintliche Terrorunterstützer denunziert und bei der nächsten Einreise in die Türkei verhaftet zu werden.
Es gibt de facto Parallelgesellschaften, die unsere Demokratie und unsere Freiheiten herausfordern, deren Protagonisten andere bedrohen, beleidigen oder denunzieren. Es würde hier schon helfen, wenn Staat und Behörden sich dessen bewusst sind und genau hinschauen. Der Eindruck, dass die Sicherheit derer, die sich in Europa fest verwurzelt fühlen und sich zugleich für die Demokratie in der Türkei einsetzen, im Vergleich zur Sicherheit der antidemokratischen Scharfmacher nur nachrangig ist, wäre jedenfalls fatal für das Vertrauen in unsere europäischen Grundrechte.
Es geht nicht darum, fanatische Anhänger nationalistischer und faschistischer Ideen von Demokratie und Humanismus zu überzeugen. Wo es gelingt – großartig. Doch sollte man nicht naiv sein und sich darauf verlassen. Unsere Verantwortung gilt zuallererst denen, die bedroht werden. Es muss jederzeit klar werden, dass in Europa ausschließlich die säkularen Verfassungen gelten – und wir auch keine doppelten Sicherheitsstandards zwischen Europäern und Migranten zulassen. Wer hierzulande mit türkischen Nationalisten und Rassisten zusammenarbeitet, sich nicht gegen sie durchsetzt oder zurücksteckt – wie die Stadt Köln, die aus Angst vor Ultranationalisten ein Mahnmal zum Völkermord an den Armeniern entfernen lassen will –, öffnet die Büchse der Pandora. Denn die Feinde der offenen Gesellschaft verstehen solches Handeln als Aufforderung weiterzumachen.
Auch dürfen wir das System muslimischer Verbände, die mehr politische Interessenvertreter sind als Religionsgemeinschaften, nicht weiter mit naiver Zusammenarbeit unterstützen und legitimieren. Dialog? Ja, sicher. Kooperation? Nein, nicht unter diesen Umständen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Ditib-, Atib- und Milli-Görüş-Moscheen in Wahlkampfzentralen der türkischen Regierung verwandelt wurden, wo die Opposition keinen Platz hatte. Ebenso wenig, dass die Verbände ihre Eigenständigkeit immer bloß behaupten und im Zweifel die Interessen aus Ankara umsetzen. Sind sich alle Entscheidungsträger in Europa darüber im Klaren, dass die nächste Generation der Imame aus der Türkei noch nationalistischer und fundamentalistischer sein wird als die heutige? Wissen alle, die für Staatsverträge mit Ditib, Milli Görüş und anderen gegenüber offen sind oder andere Abkommen treffen wollen, dass sie Erdogan damit direkt in europäische Schulen holen?
Nicht naiv zu sein bedeutet auch, um Kopf und Herzen der Türkeistämmigen zu ringen – genauso übrigens, wie es bei Russischstämmigen notwendig ist, wenn wir sie nicht an Putin verlieren wollen. Das bedeutet, dass wir der Diasporapolitik Ankaras mehr entgegensetzen müssen. Allem voran eine aktive Religionspolitik mit klugen Finanzierungs- und Ausbildungskonzepten etwa, die mit freiheitlich-demokratisch überzeugten Muslimen das muslimische Leben in Europa gestaltet.
Nicht zuletzt brauchen wir Gegenangebote in den sozialen und in den traditionellen Medien. Wenn andere offen Propaganda betreiben, dann kann unsere naive Antwort doch nicht lauten, die Hände in den Schoß zu legen oder darauf zu hoffen, dass sie täglich in die Bibliothek gehen, um sich mit Qualitätszeitungen einzudecken. In vielen Haushalten laufen vor allem Fernsehsender, die Erdogan nahestehen. Insbesondere junge Türkeistämmige werden bei sozialen Medien wie Twitter und Instagram durch Influencer aus dem Milieu der AKP und der faschistischen Grauen Wölfe ideologisiert.
Warum nutzen wir nicht Möglichkeiten, um der aufgeheizten Propaganda gegen alle Werte unseres Landes etwas entgegenzusetzen? Ein EU-türkisches Arte-TV, das neben Nachrichten auch niedrigschwellige Unterhaltungsangebote produzieren könnte, ist nach wie vor eine Idee, die es wert ist, in die Tat umgesetzt zu werden – übrigens eine Idee, die theoretisch immer recht viel Zustimmung erfährt. Passiert ist dennoch nichts, sicher auch, weil es etwas kosten würde. Jetzt zahlen wir eine Rechnung, die nicht billiger ist.
Im Umgang mit radikalisierten Anhängern von AKP und MHP in Europa herrscht entweder Ratlosigkeit, oder man will sich die Realität schönreden. Die Angriffe auf unsere Demokratie, auf unseren Zusammenhalt, auf unsere bürgerlichen Freiheiten werden nicht geringer werden. Wir dürfen nicht naiv sein.
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