Als die türkische Regierung im September bestätigte, dass sie als erstes NATO-Mitglied dem von Russland und China dominierten BRICS-Verbund beitreten will, warf das eine seit Jahren diskutierte Frage wieder auf: Wendet sich die Türkei vom Westen ab? Zumindest was die Einstellungen in der Bevölkerung angeht, ist offenbar das Gegenteil der Fall: Laut einer Umfrage des amerikanischen Pew Research Center hat sich der Anteil der Türken mit einer positiven Einstellung gegenüber der NATO seit der vorigen Befragung von 2019 verdoppelt.
Die Zustimmung zur EU legte im gleichen Zeitraum um zwölf Prozentpunkte auf 46 Prozent zu. Obwohl die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seit Jahren auf Eis liegen, befürworten 56 Prozent der befragten Türken eine EU-Mitgliedschaft – so viele wie seit Jahren nicht mehr. Parallel dazu sanken Russland und China in der Gunst der Türken ab. Allerdings: Noch größer als der Argwohn gegenüber Russland ist die Skepsis gegenüber den Vereinigten Staaten. Nur 18 Prozent haben ein positives Amerika-Bild.
Für die künftige Ausrichtung des Landes scheint relevant, dass prowestliche Einstellungen bei jüngeren Türken deutlich stärker ausgeprägt sind als bei älteren. Das deckt sich mit Umfragen, in denen ein hoher Anteil junger Türken den Wunsch nach Auswanderung in den Westen äußert. Allerdings ist die türkische Gesellschaft polarisiert: Die Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdoğan sind deutlich russlandfreundlicher und europaskeptischer als seine Kritiker. Nur in Bezug auf die NATO scheint es einen Konsens zu geben. Die Allianz wird von Befürwortern und Kritikern der Regierung fast gleich bewertet.
Die Autoren der Studie sehen die gewachsene Zustimmung zur NATO als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Der Krieg hat dem transatlantischen Bündnis nicht nur neues Leben eingehaucht, er hat auch die geopolitische Bedeutung der Türkei und damit ihre Verhandlungsposition gestärkt. Erdoğans Positionierung des Landes als Vermittler zwischen Moskau und Kiew wird in Ankara parteiübergreifend als erfolgreiche Strategie betrachtet. Ein anderer Faktor, der die außenpolitischen Einstellungen der Türken jahrelang stark geprägt hat, scheint inzwischen an Bedeutung verloren zu haben: der Putschversuch von 2016. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte die Wirren seinerzeit genutzt, um Erdoğan den Rücken zu stärken, während die zurückhaltenden Reaktionen im Westen nicht nur in der türkischen Regierung, sondern auch in der Bevölkerung auf Unverständnis stießen. Die anschließende Hinwendung der Türkei nach Russland gipfelte 2019 im Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400, der die Beziehungen zur NATO bis heute belastet. Die Türkei wurde aus dem Programm für amerikanische F-35-Kampfflugzeuge ausgeschlossen, was die Modernisierung ihrer Luftwaffe um Jahre zurückwarf.
In dieser Frage scheint es nun Bewegung zu geben. Washington hat Ankara eine Rückkehr in das Programm in Aussicht gestellt, wenn eine „Lösung“ für das noch nicht in Dienst gestellte S-400-System gefunden werde. Auch auf einen Kauf von Eurofighter-Typhoon-Kampfflugzeugen kann sich Ankara offenbar Hoffnung machen. Unter Berufung auf eine „mit der Angelegenheit vertraute Quelle“ geht hervor, dass die deutsche Regierung technischen Gesprächen über einen möglichen Verkauf zugestimmt habe, nachdem Berlin solche nach türkischen Angaben lange blockiert hatte. Das Thema dürfte beim Besuch von Regierungschef Olaf Scholz in Istanbul auch zur Sprache gekommen sein.
Erdoğan hat Darstellungen zurückgewiesen, wonach eine türkische Mitgliedschaft der BRICS-Staaten eine Abwendung vom Westen bedeuten würde. „Unser Gesicht ist dem Westen zugewandt“, sagte er. Das bedeute nicht, dass man dem Osten den Rücken zukehren könne. Die Türkei müsse offen für Chancen sein, die mit der Bildung neuer „Machtzentren“ verbunden seien. Laut dem Außenminister Hakan Fidan sieht das Land in dem Verbund vor allem wirtschaftliche Vorteile. Das gilt etwa für den Zugang zur Entwicklungsbank der BRICS. Europäische Diplomaten in Ankara wollen den möglichen Beitritt nicht überbewertet sehen. „Wir sollten die Türkei nicht drängen, sich zu entscheiden“, sagt ein Diplomat. „Anderes gilt für die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.“ Ausgerechnet vor dem NATO-Gipfel im Juli hatte Erdoğan sein Interesse an einem Beitritt zu dieser von China dominierten Organisation bekundet, die auch Verteidigungszusammenarbeit einschließt. Das, so der Diplomat, sei mit der NATO-Mitgliedschaft unvereinbar.