Gegen den Bürgermeister von Istanbul und möglichen Erdogan-Herausforderer Ekrem Imamoglu ist ein Politikverbot verhängt worden. Ein Istanbuler Gericht verurteilte Imamoglu vergangenen Monat wegen Beleidigung auch zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten. Sein Anwalt kündigte Berufung gegen das Urteil an. Währenddessen steht die Opposition vor den anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vor einem großen Problem.
Imamoglu gilt seit seiner Wahl zum Bürgermeister der türkischen Metropole Istanbul im Jahr 2019 als aufstrebender Politikstern und als potenzieller Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Präsidentschaftswahl 2023. Die Wahl hatte Imamoglu knapp gegen den Kandidaten der regierenden Partei AKP gewonnen. Die Wahlkommission annullierte das Ergebnis jedoch auf Antrag der AKP und ließ die Wahl wiederholen – Imamoglu gewann erneut. „Alles wird schön, alles wird gut“, mit diesem Slogan gewann er die Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul. Seinen Sieg in der 16-Millionen-Metropole sehen Beobachter auch als indirekte Niederlage Erdogans, der Wahlkampf für den Kandidaten seiner Partei gemacht hatte. Die Stadt war zuvor über mehr als 20 Jahre von der AKP und ihren politischen Vorgängern regiert worden.
Der Prozess gegen Imamoglu wurde im vergangenen Monat unter sichtbaren Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt. Die unmittelbare Umgebung des Gerichtsgebäudes wurde für die Prozesstage abgeriegelt sowie die Straßen von der Polizei gesperrt, wie AFP-Reporter. Nach der Urteilsverkündung rief der Verurteilte seinen Unterstützern zu: „Das ist ein Beweis dafür, dass es in der Türkei keine Gerechtigkeit mehr gibt“ Jede Entscheidung, die die Richter und Staatsanwälte träfen, sei zu ihrem eigenen Vorteil. Scharf griff er den Personenkreis um Präsident Erdogan an. Er bezeichnete sie als „Politiker, die sagen, dass sie der Staat und die Nation sind, sie sagen, dass ihnen alles gehört“. Sie beeinflussten die Justiz, und sie hätten auch dieses Urteil bestellt. Überraschend war zudem ein Richterwechsel beim Oberlandesgericht im Istanbuler Stadtteil Kartal, wo es zur Auswechslung im Richteramt kam. Der zunächst dem Fall Imamoglu vorsitzende Richter hatte im Frühsommer gesagt, dass das, was Imamoglu vorgeworfen werde, keinesfalls ein Politikverbot rechtfertige. Nach diesem Statement wurde dieser in die Provinz strafversetzt.
Ihren Ausgang nimmt die Vorgeschichte des Gerichtsverfahrens am 31. März 2019, als bei der Bürgermeisterwahl Imamoglu den AKP-Kandidaten Binali Yildirim knapp geschlagen hatte. Die AKP focht das Ergebnis an, und so setzte die Wahlbehörde eine Neuwahl auf den 23. Juni an. Imamoglu gewann die zweite Runde nun haushoch. Am 30. Oktober 2019 hielt Imamoglu eine Rede vor dem Europaparlament in Straßburg. Dort sagte er: „Die Regierung wollte eine Wahl gewinnen, die sie durch Manipulation nicht gewinnen konnte, und so ließ sie die von der Wahlbehörde annullieren.“
Die Wahlbehörde untersteht Innenminister Soylu. Der griff nun Imamoglu scharf an: „Ich sage dem Dummkopf, der sich vor dem Europaparlament über die Türkei beschwert hat: Diese Nation wird Sie dafür bezahlen lassen. Schande über Sie!“ Der Angegriffene schlug in einem Interview mit dem Sender CNN Türk zurück: „Ein Dummkopf ist, wer die Wahl annulliert hat.“ Wer ist nun dieser Dummkopf? Das Gericht will verstehen, dass Imamoglu den Vorsitzenden der Wahlbehörde, Sadi Güven, gemeint haben müsse. Er klagte Imamoglu an, einen Beamten „beleidigt“ zu haben, und forderte eine Haftstrafe, die mit einem Politikverbot verbunden ist. Die Journalistin von CNN Türk, die Imamoglu interviewt hatte, gab im Gericht indessen zu Protokoll, Imamoglu habe eindeutig den Innenminister gemeint. Denn ihre Frage habe sich auf diesen bezogen.
Nach dem Urteil, welches noch nicht rechtskräftig ist – Imamoglu kündigte Revision an -, steht es trotzdem nicht gut um den CHP-Politiker und die erstmals vereinte Opposition, die sich vorgenommen hatte, die Ära Erdogan und dessen AKP zu beenden. Wie sonst nur Erdogan kann Imamoglu die Menge begeistern.
Aber auch andere Oppositionspolitiker sehen sich und ihre politische Arbeit bedroht. Während Präsident Erdogan die Vorsitzende der Iyi-Partei, Aksener, umwirbt, um sie vielleicht doch noch rechtzeitig vor den Wahlen aus dem Oppositionsbündnis herauszulösen und er sie deshalb von Angriffen verschont, laufen gegen andere Politiker der CHP mehrere Verfahren wegen „Präsidentenbeleidigung“. Urteile wurden noch keine gesprochen. Bei der früheren CHP-Vorsitzenden Istanbuls, Canan Kaftancioglu, ist dies aber der Fall, sie wurde wegen Tweets aus den Jahren 2013 und 2014 zunächst 2019 zu neun Jahren Haft verurteilt. Im Juni 2022 wurde die Strafe, verbunden mit einem Politikverbot, auf vier Jahre reduziert. Ihr wird Präsidentenbeleidigung und Herabsetzung der Republik vorgeworfen. Das Amt als CHP-Provinzvorsitzende musste sie abgeben. Die Haftstrafe musste sie jedoch noch nicht antreten, und so konnte sie letzten Monat an der Seite Imamoglus auftreten. Möglicherweise begegnen sie sich bald wieder im berüchtigten Gefängnis Silivri für politische Gefangene im Westen von Istanbul.
Viele in der Türkei trauen Imamoglu zu, Erdogan in einer Präsidentenwahl zu schlagen. Er gilt als volksnah und anständig – politische Schlammschlachten meidet er. Auch für Konservative ist er wählbar: Er ist gläubig, kommt – genau wie Erdogans Familie – aus der konservativen Schwarzmeerregion, und seine Mutter trägt Kopftuch.
Neben Imamoglu sind zwei weitere Männer für eine Präsidentschaftskandidatur der Opposition im Gespräch: Kemal Kilicdaroglu, CHP-Vorsitzender, und Mansur Yavas aus der gleichen Partei, der Bürgermeister der türkischen Hauptstadt Ankara ist. An das Charisma von Imamoglu reichen beide Kandidaten nicht heran. Und während Kilicdaroglu und seine Partei bei neun Wahlen gegen Erdogan verloren haben, kann Imamoglu mit der zweimal gewonnenen Bürgermeisterwahl Erfolge gegen Erdogan und dessen Partei vorweisen.
Mit rund 45 Prozent glaubt die Mehrheit der Türken, dass der Prozess politisch motiviert ist, wie eine Umfrage des Umfrageinstituts Metropoll mit mehreren Antwortmöglichkeiten ergab. Unter den AKP-Anhängern waren es gut 28 Prozent, während 24 Prozent glaubten, es gehe in dem Prozess tatsächlich um Beleidigung. Offenbar kann Erdogan nicht einmal seine eigenen Anhänger über den wahren Grund von Imamoglus Verurteilung täuschen.
Das Offensichtliche zu kritisieren, scheint aber der Opposition ein knappes halbes Jahr vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen allerdings noch nicht weiter zu helfen: Zwar hat der Istanbuler Stadtchef bereits Berufung gegen seine Haftstrafe wie auch gegen das langjährige Politikverbot eingelegt, aber seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen ist nun nach Ansicht von Juristen zu einem schwer kalkulierbaren Risiko für die Gegner von Staatspräsident Erdogan geworden. Mit einem Kandidaten in Haft lässt sich keine Wahl gewinnen. Offiziell ist der 18. Juni der letztmögliche Wahltag für das Präsidentenamt und das Parlament. Für die Bewerbung um das höchste Staatsamt gibt es eine Frist, die die Oberste Wahlkommission verhängt. Da die Wahl aber auch früher als am 18. Juni abgehalten werden kann, etwa im April oder Mai, gibt es auch noch keine Frist, den Wahltermin festzulegen, liegt de facto in Erdogans Hand. Falls Imamoglu kandidiert und die letzte gerichtliche Instanz das Urteil erst danach bestätige, könnte die Opposition wegen der unklaren Bewerbungsfrist eventuell keinen neuen Kandidaten mehr benennen. Dann stünde sie möglicherweise ohne überzeugenden Kandidaten gegen den erneut antretenden Amtsinhaber da.
CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu scheint sich selbst für den besten Kandidaten zu halten, doch das sehen einige in der oppositionellen Allianz anders. Er habe keine Regierungserfahrung und gehöre der islamischen Minderheit der Aleviten an, die viele sunnitische Muslime als Häretiker betrachten. Das Bündnis braucht zudem einen Kandidaten, der die kurdische Minderheit überzeugt. Die Kurden mit ihrer Partei HDP gelten bei dieser Wahl als Königsmacher; die HDP ist aber nicht Teil der Sechserallianz, sondern unterstützt diese nur.
Die Chancen für den Amtsinhaber könnten also wieder steigen!
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