Ein Spitzentrio von EU-Politikern machte sich auf den Weg nach Tunesien, um in Gesprächen mit dem tunesischen Machthaber Kais Saïed Chancen auszuloten, wie der in den vergangenen Monaten ausgehandelte Migrationskurs der Union auch realisiert werden könnte. Die Reise nach Tunis stand offensichtlich im Zusammenhang mit den neuen Regeln für Asylverfahren in Europa, über die sich die Mitgliedstaaten in Luxemburg verständigten. Sollten sie Gesetz werden, dann werden Grenzstaaten wie Italien sehr viel mehr Aufgaben im Umgang mit Migranten übernehmen. Sie müssen auch Schnellverfahren für Asylbewerber mit wenig Aussicht auf Erfolg abwickeln. Im Gegenzug würden sich die anderen EU-Länder verpflichten, Italien Asylbewerber abzunehmen, sie können sich allerdings auch davon freikaufen.
Die italienische Regierungschefin Meloni vertrat die Staaten, die von irregulärer Migration besonders stark betroffen sind. Neben Italien ist es besonders Griechenland, das seine Aufnahmekapazität schon ausgeschöpft hat. Ihnen bleibt nichts übergibst, als die Mehrzahl der Flüchtlinge einfach weiterzuschicken, statt sie zu registrieren und die Asylverfahren abzuwickeln, wie es eigentlich die EU-Regeln vorschreiben. Der niederländische Premier Mark Rutte repräsentierte auf der Reise in den Norden Afrikas die Staaten, in denen die vielen unregistrierten Flüchtlinge ankommen und in deren Gesellschaften sich deshalb großer Widerstand regt. Ursula von der Leyen ist die oberste Chefin der EU-Kommission, viele in der EU werfen ihr vor, sie habe angesichts der Covid-Krise und Russlands Angriff auf die Ukraine das Thema Migration lange Zeit vernachlässigt.
Die Beziehungen der Europäischen Union zu den Staaten des Maghreb stehen unter dem Oberbegriff der „Südlichen Nachbarschaft“. Als Reaktion auf den Arabischen Frühling versuchte die EU, die Regierungen noch enger an sich zu binden, um die Demokratiebewegung zu stärken. Doch gerade Tunesien sei ein Beispiel, wie sich ein Land wieder rückwärts entwickelt.
Geld war in der EU schon seit geraumer Zeit ein probates Mittel, um Probleme zu lösen, auch im Rahmen der Migrationspolitik. Die EU zahlt vielen afrikanischen Staaten im Rahmen von Abkommen Millionen für Grenzsicherung, den Kampf gegen Schleuser, für Such- und Rettungsaktionen. Das Geld geht auch an alle Staaten des Maghreb, sogar an Libyen. Nach der Reise des EU-Trios nach Tunis kündigte von der Leyen an, Tunesien werde zusätzlich 100 Millionen erhalten, das wäre eine Verdreifachung der bisher gezahlten Zuschüsse, damit aber noch nicht genug: Die Summen, die europäischen Spitzenpolitiker dem tunesischen Präsidenten anboten, zeugen von einer neuen Dimension von Migrationspolitik: Die EU will offenbar den in jeder Hinsicht maroden Maghreb-Staat zu einem strategischen Partner in Sachen Migration aufpäppeln, denn aus Tunesien kommt derzeit die Mehrzahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge.
150 Millionen Euro sofortige Haushaltshilfe, weitere 900 Millionen Euro als makroökonomische Hilfe, umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit, Erasmus-Programm für tunesische Studierende und einiges mehr wurden als Handlungsmasse auf den Tisch des immer autokratischer regierenden Staatschef Tunesiens angeboten. Sogar die Gespräche über einen Ausbau der bestehenden „privilegierten Partnerschaft“ zwischen Tunesien und der EU sollen wieder fortgesetzt werden. Kritiker dieser Politik bezeichnen dies einfach als ein unmoralisches Angebot. Ursula von der Leyen sagte, die Achtung der Menschenrechte sei wichtig für eine „ganzheitliche“ Migrationspolitik. Wie sehr die EU wirklich auf Menschenrechte Wert legt, wird sich in den nun folgenden Verhandlungen erweisen. Von Giorgia Meloni ist bekannt, dass sie darauf keinen allzu großen Wert legt. Sie will eine Vereinbarung mit Tunesien um jeden Preis und würde dafür weitere 700 Millionen Euro aus dem italienischen Haushalt freimachen.
Unter EU-Diplomaten wird spekuliert, Meloni habe dem Asylpakt nur unter der Bedingung zugestimmt, dass Ursula von der Leyen ein Hilfspaket für Tunesien auf den Weg bringt. Melonis Innenminister konnte zudem in Luxemburg einen entscheidenden Passus in das Abkommen hineinverhandeln: Es liegt im Ermessen der Mitgliedsländer, in welche „sichere Drittstaaten“ sie abgelehnte Asylbewerber schicken können, die vom Heimatland nicht aufgenommen werden. Es könnte also reichen, wenn Migranten Tunesien einmal durchquert haben.
Die Regierung von Mark Rutte stand in den Verhandlungen an der Seite Italiens. Rutte hat auch schon das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei ausgehandelt, so liegt die Vermutung nahe, Tunesien solle eine ähnliche Rolle spielen: Sechs Milliarden Euro zahlte die EU dafür, dass Präsidentg Fluchtrouten schloss und in Europa ankommende Flüchtlinge wieder zurücknahm. Bei den Gesprächen mit Tunesien gehe es um die gesamte afrikanische Migration Richtung Europa, sagte Mark Rutte.
Bei den massiven Wirtschaftshilfen an den nordafrikanischen Staat soll sichergestellt sein, dass das Geld auch wirklich bei den Menschen im Land ankommt. Und erst einmal müsse es das Ziel sein zu verhindern, dass Menschen aus Tunesien wegen der Wirtschaftskrise in ihrem Land Richtung Europa streben. Die Hoffnung aber, Tunesien könne zum verlängerten Arm der EU in Sachen afrikanischer Migrationspolitik werden, kann schnell trügerisch werden, das hat bereits das Abkommen mit der Türkei gezeigt, welches schon lange nicht mehr funktioniert.
Das EU-Parlament hat aber auch noch ein Wort mitzureden, wenn es bald mit dem Rat der Mitgliedsländer die Asylreformen final verhandelt. Die Position des Parlaments, verabschiedet mit den Stimmen von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen, stimmt im Wesentlichen mit jener des Rates überein, aber in Details sind größere Debatten zu erwarten. Besonders die Sozialdemokraten sehen es als sehr kritisch an, dass Mitgliedsländer nach eigenem Ermessen entscheiden sollen, wohin sie abgelehnte Asylbewerber abschieben.
Aber was zumindest Tunesien angeht, war die Reise der Brüsseler Troika eh nicht sonderlich von Erfolg gekrönt: Präsident Kaïs Saïed hat sich dagegen ausgesprochen, Migranten aus Europa nach Tunesien zurückzutransportieren und dort unterzubringen. Er bezeichnete „den von einigen Seiten diskret unterbreiteten Vorschlag, Migranten in Tunesien anzusiedeln und dafür finanzielle Unterstützung für das Land zu erhalten, als unmenschlich und unzulässig“, wie die offizielle Nachrichtenagentur TAP berichtete.
Er verwies darauf, dass Tunesien selbst von einem Transit- zu einem Zielland geworden sei, dessen „Werte verlangen, dass wir irreguläre Migranten menschlich behandeln“. Im Februar war Saïed Hetze gegen Migranten vorgeworfen worden. Die angekündigte Unterstützung aus Brüssel führte offenbar auch zu keiner größeren Flexibilität in den Verhandlungen über die Bedingungen des Milliardenkredits des Internationalen Währungsfonds (IWF): Nicht Tunesien, sondern der IWF müsse „seine Vorschläge überarbeiten, um zu einer Lösung zu gelangen. Sie können niemals in Form von Diktaten präsentiert werden“, sagte Saïed laut dem Agenturbericht. „Konventionelle Lösungen“ verschlimmerten nur die soziale Krise, was sich auch negativ auf die Situation in der gesamten Region auswirken werde.
Für die EU kommt es nun darauf an, in sehr kurzer Zeit den „umfassenden Partnerschaftspakt“ mit Tunesien zu konkretisieren. Angestrebt wird eine Absichtserklärung („Memorandum of Understanding“), welche die Staats- und Regierungschefs genehmigen sollen. Mit den Verhandlungen wurde der Kommissar für Erweiterung und Nachbarschaft, Olivér Varhélyi, beauftragt. Der oberste Beamte der zuständigen Generaldirektion hielt sich ebenfalls in Tunis auf.
In Brüssel wurde hervorgehoben, dass man eine breite und langfristige „Partnerschaft auf Augenhöhe“ mit Tunesien anstrebe. Die Brückenfinanzierung von 150 Millionen Euro, die Tunesien als Zuschuss gewährt werden sollen, bevor es seine Verhandlungen mit dem IWF abgeschlossen hat, diente der Stabilisierung des Landes. Die Zusammenarbeit werde nicht daran gemessen, wie sich die Ankünfte aus Tunesien in den nächsten Wochen entwickelten, obwohl auch das wichtig sei. Bestätigt wurde, dass es neben einer Ertüchtigung der Küstenwache auch darum gehe, Migranten nach Tunesien zurückzubringen, die das Land als Sprungbrett nach Italien nutzen.
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