Über das Wahlverhalten der türkeistämmige Diaspora in Westeuropa wurde hier schon oft geschrieben. Gerade in Deutschland und Österreich konnte der Wahlkämpfer Erdogan seine größten Stimmerfolge erreichen. Ein Ergebnis waren oft integrationspolitische Debatten in den Feuilletons von Zeitungen.
Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung hat zur Frage der Wählermotivation eine Umfrage unter türkeistämmigen Personen in Deutschland durchgeführt. Die Resultate zeigen keine Abwendung der türkeistämmigen Communitys von Deutschland, sondern im Gegenteil eine große Verbundenheit sowohl mit Deutschland als auch mit der Türkei, das politische Interesse an der Türkei bleibt generationsübergreifend ausgeprägt. Wenn erklärt werden soll, warum so viele türkeistämmige Menschen in Deutschland wählen gehen und für Erdogan stimmen, greifen Loyalitäts- und Integrationsdebatten somit zu kurz, so die Autoren der Studie.
Mit Blick auf die Wahlpräferenzen sehen die Studienleiter zwischen offenkundigen Diskriminierungserfahrungen, also Bedrohungen, Belästigungen und Beschimpfungen, und einer Präferenz für die Regierungskoalition unter Erdogan einen Zusammenhang. Ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der eigenen Wahrnehmung, Teil einer in Deutschland oder der Türkei diskriminierten Gruppe zu sein, und der Wahlpräferenz findet sich in den Daten nicht. Daher kann die oft behauptete Annahme, dass Diskriminierungserfahrungen Erdogan die Wähler in die Arme treiben würden, auf Grundlage der Befragungen kaum belegen.
Wesentlich stärker mit der Wahlpräferenz assoziiert ist, wie türkeistämmige Menschen den Umgang der türkischen Regierung mit Herausforderungen wie den Folgen der schweren Erdbeben im Februar 2023 oder der angespannten Wirtschaftslage bewerten. Die zentralen Ergebnisse der Studie heben folgende Aspekte hervor:
- Türkeistämmige Menschen in Deutschland bescheinigen der Präsidentschaftswahl in der Türkei 2023 eine große Bedeutung für die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes.
- Das Interesse an der Wahl ist in den türkeistämmigen Communitys im Vergleich zur letzten Präsidentschaftswahl 2018 noch gestiegen. Es ist generationsübergreifend ausgeprägt und nimmt mit dem Engagement in migrantischen Organisationen und Vereinen weiter zu.
- Wie eine Person den Umgang der Regierung mit politischen Herausforderungen wie der stark angespannten Wirtschaftslage oder den schweren Erdbeben im Februar 2023 beurteilt, hängt eng damit zusammen, welche Wahlpräferenz sie hat.
- Türkeistämmige Menschen fühlen sich sehr stark mit Deutschland und der Türkei verbunden.
- Die Daten zeigen, dass offenkundige Diskriminierungserfahrungen mit Wahlpräferenzen assoziiert sind. Andere individuelle Diskriminierungserfahrungen und die wahrgenommene Diskriminierung der Herkunftsgruppe sind jedoch nicht signifikant.
In den letzten Jahrzehnten hat die wissenschaftliche Forschung zur türkischen Diasporapolitik erheblich zugenommen. Dabei wurden insbesondere die unter der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP-Partei eingeleiteten Veränderungen analysiert, welche die Diaspora zunehmend miteinbeziehen. Nachdem der türkische Staat und die Parteien die Diaspora lange Zeit vernachlässigt hatte, begann er schrittweise damit, bestimmte Gruppen zu begünstigen, insbesondere diejenigen, die der AKP-Ideologie nahestehen.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung und öffentliche Debatten über die Ausweitung des Wahlrechts drehen sich vor allem um die Fragen, ob sich politische Loyalitäten gegenseitig ausschließen und ob religiöse, ethnische oder regionale Identifikationen ausschlaggebend für das Wahlverhalten sind. Ebenfalls wird diskutiert, welche Rolle Diskriminierungserfahrungen in der Diaspora spielen und wie selektive Migrationspolitiken die Zusammensetzungen von Migrantengruppen beeinflussen. Besonders wird in dieser Debatte die Frage betont, warum viele Türkeistämmige in Europa Erdogan und die AKP unterstützen, während diejenigen in den Vereinigten Staaten und Kanada tendenziell die oppositionelle CHP und die prokurdische HDP unterstützen. Dies liegt laut einiger Studien daran, dass eine signifikante Anzahl türkeistämmiger Einwanderer in den USA und Kanada hochqualifizierte und wohlhabende Menschen mit städtischem Hintergrund sind (sowie kurdische Asylsuchende), während die deutsche Diaspora aus der Türkei ursprünglich aus armen und konservativen Teilen Anatoliens ausgewandert ist.
Insgesamt durften ca. 3,25 Millionen Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft, die im Ausland leben, an den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei teilnehmen. Von ihnen wohnen 1,5 Millionen in Deutschland, sie machen etwas weniger als die Hälfte der insgesamt 3,25 Millionen hier lebenden türkeistämmigen Menschen aus. Türkische Staatsbürger im Ausland stellen insgesamt fünf Prozent der Wähler. Unter ihnen hat die Wahlbeteiligung bisher einen Höchstwert von über 50 Prozent erreicht.
In den türkeistämmigen Communitys in Deutschland war das Interesse an den letzten Wahlen in der Türkei hoch: 2018 lag die Wahlbeteiligung bei 46 Prozent. In der Folge wurde kontrovers über die (Nicht-)Integration von türkeistämmigen Communitys diskutiert. Die Umfrage sieht keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Verbundenheit mit Deutschland oder der Türkei und dem Interesse an der aktuellen Wahl in der Türkei. Die türkeistämmigen Communitys fühlen sich nicht entweder mit Deutschland oder mit der Türkei, sondern sowohl mit Deutschland als auch mit der Türkei verbunden.
Eine große Mehrheit der Befragten betrachtet die Wahl in der Türkei als wichtig für die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Diese Einschätzung ist unabhängig von der Generation und der Wahlberechtigung.
Im Einklang mit der Bedeutung, die der Wahl beigemessen wird, ist das Interesse im Vergleich zur Präsidentschaftswahl 2018 von ca. 53 Prozent auf ca. 65 Prozent gestiegen. Beim politischen Interesse an der Türkei finden sich keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Generationen. Die Wahlberechtigten in der Umfrage haben ein höheres Interesse an der Wahl als Personen, die nicht wahlberechtigt sind. Möglicherweise lassen sich diejenigen, die sich grundsätzlich weniger für türkische Politik interessieren, auch eher einbürgern und verlieren damit ihr Wahlrecht. Oder es verhält sich genau umgekehrt und türkeistämmige Menschen verlieren nach ihrer Einbürgerung sukzessive das Interesse an den Wahlen in der Türkei, weil sie ohnehin nicht mehr wählen dürfen.
Untersuchungen des Wahlverhaltens von migrantischen Personen in „Ankunftsländern“ zeigen, dass ethnische und religiöse Organisationen oft eine vermittelnde Rolle einnehmen. Jüngste Studien zum Diaspora-Engagement betonen beispielsweise, dass politische Parteien aus dem Herkunftsland in unterschiedlichen Organisationen mobilisieren können. Um das Engagement der Befragten in verschiedenen Organisationen messen und sich ihrer möglichen Mobilisierung annähern zu können, hat die Studie die Teilnahme an Aktivitäten in verschiedenen Organisationen wie politischen Parteien, religiösen Vereinen, Kultur- und Sportvereinen abgefragt, die einen Bezug zu der Herkunftsgruppe der Befragten aufweist. Tatsächlich geben Personen, die in Organisationen mit Bezug zu ihrer Herkunftsgruppe aktiv sind, signifikant häufiger an, Interesse an den Wahlen zu haben.
Eine vergleichende Analyse der Wahlpräferenzen in den Jahren 2018 und 2023 zeigt kaum eine Veränderung. Bemerkenswert ist, dass sich Ende April 2023 über 20 Prozent der Befragten noch nicht für einen Kandidaten entschieden hatten. Die Daten der Befragten, die eine Präferenz angegeben haben, deuten auf einen leichten Stimmverlust für die Regierungskoalition aus AKP und der MHP hin. Das heißt, dass sich die Kräfteverhältnisse bei den Wahlen vermutlich kurzfristig verschoben und die Unentschlossenen das endgültige Wahlergebnis in Deutschland entscheidend mit beeinflusst haben könnten.
Im Vorfeld der Wahl mutmaßten viele Beobachter, dass die Wirtschaftskrise in der Türkei sich auch auf die Wählerpräferenzen auswirken könnten. Um diese Annahme zu überprüfen, wurde danach gefragt, wie zufrieden die Befragten mit den Maßnahmen der Regierung nach der Erdbebenkatastrophe sind und wie sie die Wirtschaftslage beurteilen. Unter denjenigen, die Letztere als schlecht oder sehr schlecht bezeichnen, würden nur 11 Prozent das Bündnis aus AKP und MHP wählen. Noch deutlicher hängt die Bewertung des staatlichen Umgangs mit den Folgen der Erdbeben mit der Wahlpräferenz zusammen: Keine Person in der Stichprobe, die mit den Maßnahmen unzufrieden ist, gibt an, die AKP wählen zu wollen. Umgekehrt würden nur 2,6 Prozent der Befragten, die mit den Maßnahmen zufrieden sind, die Opposition wählen.
Persönliche Diskriminierungserfahrungen waren bei den Umfragen sehr weit verbreitet. 53 Prozent der Befragten erleben offenkundige Diskriminierung, 63 Prozent erleben mehrmals im Jahr, 38 Prozent sogar regelmäßig subtile Diskriminierung. Die Analysen zeigen, dass es zwischen eigenen, subtilen Diskriminierungserfahrungen und der Wahlpräferenz keinen signifikanten Zusammenhang gibt. Einzig bei den offenkundigen Diskriminierungserfahrungen lässt sich beobachten, dass diese mit einer statistisch signifikanten Bevor- zugung der Koalition aus AKP und MHP assoziiert sind. Folglich finden sich nur schwache Anhaltspunkte für die Hypothese, dass die sogenannte „Umarmungsstrategie“ der AKP-Regierung, die diese Diskriminierungserfahrungen immer wieder öffentlich aufgreift, Wahlpräferenzen für die AKP hervorbringe oder stärke.
Ebenfalls nicht bekräftigen kann die Studie die These, dass die Wahlpräferenz für die AKP mit dem Bildungsniveau der Diaspora in Deutschland assoziiert sei. In der Umfrage findet sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem individuellen Bildungsniveau und der Wahlpräferenz, was darauf hindeutet, dass die AKP aus verschiedenen Schichten Stimmen sammelt. Ein großer Teil der Befragten nimmt wahr, dass die eigene Herkunftsgruppe diskriminiert wird. 51 Prozent sagen, dass ihre Gruppe in Deutschland „ganz allgemein“ und/oder „in der Ausübung ihrer Rechte“ benachteiligt wird. 38 Prozent nehmen diese Form der Benachteiligung in der Türkei wahr. In der Tendenz lässt sich laut Studie folgendes Muster beobachten: Befragte, deren eigene Gruppe in der Türkei strukturell diskriminiert wird, haben eine geringere Wahlpräferenz für die Regierungskoalition, diejenigen, die angeben, dass ihre Herkunftsgruppe in der Türkei nicht diskriminiert wird, neigen der Regierungskoalition eher zu. Wenn eine strukturelle Diskriminierung der eigenen Gruppe in Deutschland wahrgenommen wird, beobachtet man eine höhere Wahlpräferenz für die Regierungskoalition. Diese Zusammenhänge sind allerdings statistisch nicht signifikant, was mit der geringen Fallzahl zusammenhängen könnte. Dennoch ist die Richtung des Befundes nicht überraschend: Die AKP regiert seit 2002 und es kann davon ausgegangen werden, dass diejenigen, die nach wie vor eine AKP-Präferenz aufweisen, ihre Interessen und ihre Herkunftsgruppe ausreichend repräsentiert sehen.
Nachweisen konnte die Studie, dass die subjektive Bewertung des politischen Umgangs mit großen Herausforderungen wie der Erdbebenkatastrophe mit der Wahlpräferenz assoziiert ist. Entsprechend wichtig ist es für künftige Debatten über diasporisches Wahlverhalten, politische Ereignisse und Entwicklungen im Herkunftsland stärker zu berücksichtigen. Ebenfalls intensiver betrachtet werden sollten die Kampagnen und Rhetorik der Parteien im Herkunftsland, die politischen Kontroversen oder Krisen, die Rolle der Medien und die Bedeutung anderer politischer Akteure, die Menschen auf unterschiedliche Weise mobilisieren können.
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