Die Ermittlungen der belgischen Behörden zeigen ein weit verzweigtes Netz von Korruption un Bestechung. Nach vielen Rücktritten und Rausschmissen im Europäischen Parlament werden weitere Ergebnisse der bisherigen Recherchen deutlich. Auch sollen nicht nur Marokko und Katar versucht haben, mit Geld Einfluss in den EU-Gremien zu erlangen: Aussagen von den verhafteten Strippenziehern deuten auf Saudi-Arabien und Mauretanien.
Das Europäische Parlament hob am Donnerstag die Immunität der Abgeordneten Andrea Cozzolino und Marc Tarabella auf und konnte so den Weg für die belgische Justiz öffnen, Ermittlungen gegen die beiden Parlamentarier zu beginnen. Laut eines Parlamentssprechers liegen aktuell keine weiteren Anträge der Brüsseler Justiz zur Aufhebung der Immunität vor.
Cozzolino und Tarabella werden schwerer Straftaten wie Korruption, Geldwäsche und der Teilnahme an einer kriminellen Vereinigung beschuldigt, wie aus den beiden Berichten zur Aufhebung der Immunität hervorgeht, denen die Abgeordneten ebenfalls zugestimmt haben. Der belgische und italienische MEP der Fraktion SD bestreiten weiterhin die Anschuldigungen. Beide Mandatsträger wurden bereits für die Dauer der strafrechtlichen Ermittlungen aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen.
Tarabella war am heutigen Donnerstag bei der Abstimmung anwesend und votierte wie die überwiegende Mehrheit des Parlaments für die Aufhebung seiner eigenen Immunität. „Ich wiederhole, dass ich in dieser Angelegenheit unschuldig bin, und jetzt liegt es an der Justiz, mich zu befragen“, sagte er nach der Abstimmung und sei „glücklich“ über die Abstimmung. EU-Gesetzgeber genießen während ihrem Mandat Immunität vor Strafverfolgung. Das Entfernen dieses Schutzes dauert mehrere Wochen und umfasst zahlreiche Schritte. Ein Sprecher der belgischen Staatsanwaltschaft sagte gegenüber Journalisten, dass die lokalen Behörden die „beteiligten Personen“ nun wie jeden anderen belgischen Einwohner behandeln können.
Brüssel war in den letzten Wochen voller ängstlicher Gespräche darüber, wen die Polizei als nächstes umgarnen könnte, nachdem Pier Antonio Panzeri – der ehemalige Europaabgeordnete im Zentrum des Skandals, der festgenommen wurde – einen Plädoyer mit der belgischen Bundesanwaltschaft geschlossen und geschworen hat, Namen zu nennen.
Tarabella wird verdächtigt, Bestechungsgelder in Höhe von bis zu 140.000 Euro von Panzeri angenommen zu haben, um bestimmte Positionen zugunsten von Nicht-EU-Regierungen im Europäischen Parlament einzunehmen. Er war Vizepräsident des Parlamentarischen Kooperationsausschusses des Europäischen Parlaments mit den Golfstaaten, bevor er Anfang letzten Monats zurücktrat.
Mittlerweile ist auch die Historie der bisherigen Ermittlungen deutlicher geworden. Korruption und Geldwäsche durch den Golfstaat Katar waren nicht der Startschuss für die belgische Justiz, sondern die Staatsanwaltschaft ermittelte zunächst im Dunstkreis von Marokko: Der Geheimdienst eines „befreundeten Landes“ soll seine belgischen Kollegen vom Sûreté de l’Etat gewarnt haben, dass eine kriminelle Vereinigung in Brüssel versuche, mithilfe von Europaabgeordneten marokkanische Interessen durchzusetzen. Mit dieser Annahme ist er dann mit seinen Ermittlungen aktiv geworden. Der Dienst hat, im offiziellen Sprachgebrauch, die Aufgabe, Aktivitäten aufzuklären, die eine Bedrohung für die Sicherheit des Königreichs darstellen, zum Beispiel ausländische Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse innerhalb Belgiens.
Der belgische Justizminister hat mittlerweile die Rolle der Sûreté de l’Etat und die Beteiligung anderer Geheimdienste aus dem Ausland bestätigt. Er sprach von einem „Gamechanger“ für die belgischen Sicherheitsbehörden. Die Erfolge im aktiven Korruptionsfall seien für Belgien nun das, was „Sky-ECC“ im Kampf gegen den Drogenhandel gewesen sei, sagte der Minister. Sky ECC war ein vermeintlich abhörsicherer Kommunikationsdienst, den Drogendealer gerne nutzten. Weil ihn die Ermittler 2021 knackten, konnten Lieferungen nach Europa in großem Umfang abgefangen werden, auch am Hafen von Antwerpen, dem größten Drogenumschlagplatz Europas. Die Ermittlungen haben den Drogenmarkt in Belgien derart durchgeschüttelt, dass Kartelle offenbar planten, den verantwortlichen Minister zu entführen.
Mit diesen Beschuldigungen ging dann der belgische Geheimdienst zu Ermittlungsrichter Michel Claise, der seine Arbeit im Juli 2022 aufgenommen hat und schließlich die Beamten von der Antikorruptionsbehörde (OCRC) beauftragt, Ermittlungen einzuleiten. Den früheren EU-Abgeordneten Panzeri hatte die OCRC laut Recherchen schon länger im Verdacht, für Katar und Marokko zu arbeiten. Michel Claise leitete auch die Sky-ECC-Ermittlungen und erwarb sich den Ruf eines konsequenten Ermittlers, der auch immer wieder in der Vergangenheit kein Blatt vor den Mund nahm. So warf er der belgischen Regierung oft vor, sie investiere nicht genug in die Sicherheitsbehörden und schicke Strafverfolger los wie David gegen Goliath, nur mit einer Steinschleuder.
Schnell wurde dann das Ausmaß des Bestechungsskandals im EU-Parlament deutlich: Der Wüstenstaat wollte nach Erkenntnissen der Ermittler vor allem sein Image aufpolieren, das durch Berichte über die teilweise sklavenartige Behandlung von Arbeitern an den Spielorten der Fußball-WM ramponiert war. Alles soll nach Aussagen des Beschuldigten Giorgi im Jahr 2018 begonnen haben. Panzeri habe sich mit Ali bin Samikh Al Marri getroffen, damals Chef von Katars nationalem Menschenrechtskomitee, später Arbeitsminister, zuständig für die Zustände auf den WM-Baustellen. Sein Glück war bei Panzeri, dass er bereits jemanden kannte, der bereits über ein Netzwerk zur Einflussnahme im Europaparlament verfügt. 2019 soll Panzeri mit Katar handelseinig geworden sein, einige Monate nach seinem Ausscheiden aus dem EU-Parlament.
Allen Protagonisten in diesem Kriminalfall war offenbar von Anfang an klar, dass es um mehr als nur Lobbyarbeit ging. Dafür spricht die Art und Weise der Bezahlung. Giorgi, der ja auch der Lebensgefährte der in U-Haft sitzenden früheren Vizepräsidentin des EU-Parlaments Kaili war, soll dazu mit einer Person mit palästinensischen Wurzeln in der Türkei in Kontakt getreten sein. Diese habe ihm eine belgische Telefonummer gegeben, die er anrufen sollte, um an das Geld zu kommen. Die Kontaktperson soll jedes Mal eine andere gewesen sein, laut dem Italiener. Er habe nach jeder Transaktion alle Telefonnummern gelöscht, um keine Spuren zu hinterlassen. Maximal zwei- bis dreimal pro Jahr sei das so gelaufen und wurde immer anstrengender, „das war Stress für mich“.
Um den Geldtransfer einfacher zu gestalten, wurde dann die Idee entworfen für den Geldempfang eine NGO zu gründen. Das Ergebnis war dann „Fight Impunity“, die nach eigenen Angaben dagegen kämpft, dass Verstöße gegen die Menschenrechte straflos bleiben.
In den bisherigen Verhören soll Giorgi auch ausgesagt haben, dass das Brüsseler Team auch für Mauretanien und Saudi-Arabien gearbeitet hat. Nur eine Woche vor seiner Festnahme habe er gemeinsam mit Panzeri in der belgischen Botschaft Mauretaniens den saudischen Botschafter getroffen haben. Er „wollte Informationen darüber haben, was im Europäischen Parlament über sein Land gesprochen wurde“, erzählt der Beschuldigte.
Auch Mauretanien selbst habe „ein Imageproblem“, sagte Giorgi, und das sollte offenbar behoben werden. „Sie haben Panzeri engagiert, um Ratschläge zu bekommen, wie man das machen kann.“ Das Ergebnis sei eine ähnliche Zusammenarbeit gewesen wie mit Katar oder Marokko – „nur nicht mit dem gleichen Geldvolumen“. Giorgi selbst habe zum Schein eine Wohnung an den mauretanischen Botschafter vermietet und dafür 1.500 Euro Miete plus 300 Euro Nebenkosten kassiert. Diese »Vergütung« kam Monat für Monat, laut Kontodaten spätestens ab Januar 2021. Damit sind allein seitdem fast 40.000 Euro zusammengekommen, Panzeri habe zusätzlich 25.000 Euro in bar bekommen, sagt Giorgi.
Nun muss sich zeigen, ob und wie das Geld tatsächlich mit der Einflussnahme auf die politische Entscheidungsfindung im Europäischen Parlament in Zusammenhang steht. Wenn diese Analyse nicht genügend Beweise liefert, könnte die Untersuchung dennoch scheitern. Die Zusammenarbeit von Panzeri und Giorgi wird der Schlüssel zur Anklage sein. Wenn die Italiener ihr Wissen mit den Ermittlern teilen, könnte dies Einzelheiten zu den finanziellen Vereinbarungen, den beteiligten Ländern, den Begünstigten und den anderen Beteiligten offenlegen. Panzeri hat auch zugestimmt, die Namen derer bekannt zu geben, die er bestochen hat. Damit könnten noch viele Politiker nervös werden!
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