Verschwörungstheorien sind im Zeitalter der Informationsflut ein strategisches Mittel von extremistischen Akteuren geworden, die Bevölkerung für ihre Mittel zu instrumentalisieren, sie nutzen eine seit Jahrzehnten eingeübte Taktik der PR-Industrie auf perfide Weise: das sog. „Grassroot Campaigning“.
Rechte wie linke Radikale und Verschwörungstheoretiker nutzen die Plattformen auf den Social Media-Kanälen, um ihre Leser- und Zuhörerschaft zu manipulieren, ihnen Märchen aufzutischen, die sie als Fakten verkaufen, um so besser ihre Ziele zu erreichen.
Sind arabische Communities anfälliger für Verschwörungstheorien?
Fake News werden aber auch benutzt, um gezielt gewisse Bevölkerungsschichten anzusprechen. Seit geraumer Zeit wird zudem die These von Kommunikationswissenschaftlern vertreten, dass arabisch sprechende Menschen besonders anfällig für solche Fake News sein sollen. Valide statistische Daten sind zwar noch nicht in Fülle publiziert, aber sogar Muslime selbst machen sich oft darüber lustig, wie leicht Fake News Eingang finden in auch seriöse arabische Online-Medien, diese dann tausendfach auf Social Media als „Wahrheit“ repostet werden.
Faisal Al-Mutar, ein irakischer Experte auf dem Gebiet, meint, der Glaube an Verschwörungstheorien sein natürlich kein spezifisch nahöstliches Phänomen. Aber „wir haben hier Falschinformationen auf Steroiden“. Ein Grund dafür sei, dass es im Internet nur sehr wenig Inhalte auf Arabisch gebe – insbesondere wissenschaftliche Websites seien rar gesät. Deshalb fehle es auch an sachlichen und faktischen Inhalten auf Arabisch im Internet. Ein gängiger Witz besagt, dass das arabischsprachige Internet auf nur zwei Inhalte reduziert werden kann: Kochen und Extremismus. Das Fehlen faktischer Inhalte und vor allem Medienkompetenz sei das große Problem. Die Verbreitung von Falschinformationen ist nur ein Symptom.
Schweden als Angriffsziel von islamistischer Propaganda
Anfang diesen Jahres machte ein Video aus Schweden weltweit Schlagzeilen: Es zeigt einen Syrer, dem die schwedischen Behörden die Kinder weggenommen haben sollen. Zunächst steht der Mann trauernd vor der Tür der Sozialbehörde und sagt, genau hier seien 2018 seine Kinder „gekidnappt“ worden. Danach sieht man ihn auf einem Spielplatz, den er oft mit seinen Kindern besucht hat. Seine Frau fällt neben der Rutsche auf die Knie und bittet flehentlich, Schweden möge ihr endlich die Kinder zurückgeben.
Das Video wurde allein auf Youtube 2,3 Millionen Mal angeklickt, arabische Online-Medien und Webseiten verbreiteten den Inhalt tausendfach, wollten mit weiteren Videos und Artikeln belegen, dass der schwedische Staat muslimischen Eltern im großen Stil die Kinder wegnehme. Der Grundtenor dieser Berichterstattung für den arabisch-sprechenden Leser: Kinder würden zur Adoption freigegeben, weil die Schweden ja selbst kaum noch Kinder kriegen oder Kinder seien in Heimen untergebracht und würden zwangsgetauft und sexuell missbraucht. So hat das von Erdogan kontrollierte Staatsfernsehen TRT das Video auf seinem englischsprachigen YouTube-Kanal ausgestrahlt mit bis dato über 112.000 Klicks.
Auch wurde der Fall einer Frau in Schweden bekannt, die sich das Leben nahm, nachdem schwedische Behörden ihr das Kind weggenommen hatten. Wie in vielen Verschwörungsmythen und Fake-Narrativen gibt es einen wahren Kern: Europäische Staaten setzen das Wohlergehen des Kindes an die erste Stelle. Wenn es den begründeten Verdacht gibt, dass ein Kind in seiner Familie Misshandlungen ausgesetzt ist oder vernachlässigt wird, kann es im letzten Schritt dazu kommen, dass die Behörden der Familie das Kind wegnehmen, um es vorübergehend oder dauerhaft in Pflegefamilien unterzubringen.
Im Netz wird aber nun kolportiert, Schweden sowie andere europäische Staaten entführen nun massenweise Kinder, um sie zu taufen. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da ein Land wie Schweden Untersuchungen zufolge der säkularste Staat der Welt ist. Um solche Fälle von Fake News, die das Zusammenleben in einem multiethnischen Staat wie Schweden nachhaltig erschüttern können, nachhaltig zu entkräften, hat die Regierung das „Myndigheten för psykologiskt försvar“ (Agentur für psychologische Verteidigung) 2021 aufgebaut. Der Begriff der psykologiska försvar stammt aus den Anfangsjahren des Zweiten Weltkriegs, „als Schweden eingeklemmt war zwischen den Nazis und den Sowjets und es darum ging, die Resilienzkräfte der Bevölkerung zu stärken“. Es gab dann im Kalten Krieg eine Behörde gleichen Namens gegen die Propaganda der Sowjets, die 2008 aufgelöst wurde. Von 2015 an bemerkte die schwedische Regierung erstmals Trollkampagnen aus Russland, die Schweden als Hort des Verbrechens zeichneten, ein Land, das im Chaos ungeordneter Migration und sexueller Perversion versinke.
Die Behörde hat heute 54 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, einen bunten Mix aus Linguisten, Historikern, Anthropologen und Politologen. Ihr Auftrag laut Leiter: „Wir versuchen, gegen bösartige aus dem Ausland kommende Desinformation und Propaganda vorzugehen, die versucht, den Blick auf die Realität, unser Wahlverhalten, unsere Alltagsentscheidungen zu verändern.“
Keiner der Mitarbeiter ahnte zu Beginn, „wie massiv islamistische Fundamentalisten schon kurz darauf Schweden angreifen würden. Und genau diese Attacken haben sich seit Paludans Aktion noch mal gefährlich verstärkt.“ Als der schwedisch-dänische Rechtsextremist Rasmus Paludan im Januar dieses Jahres einen Koran vor der türkischen Botschaft in Stockholm verbrannte, wurden die Aufnahmen seiner aggressiven Provokation im Netz oft verschaltet mit den Entführungsgerüchten: Sie rauben unsere Kinder und verbrennen unsere Bücher! Islamistische Netzwerke, von der Muslimbruderschaft über türkische Islamverbände bis hin zu islamistischen Terrorzellen porträtierten Schweden als antimuslimische Hochburg.
In der ganzen arabischen Welt gab es Demonstrationen gegen Schweden, die Aktion Paludans nutzte gar der türkische Präsident zu seinem Veto gegen den NATO-Beitritt des skandinavischen Landes. Der schwedische Staatsschutz warnte Anfang Februar, die Gefahr von Terroranschlägen habe stark zugenommen. Die Regierung sah sich zu einer Pressekonferenz gezwungen, auf der Premierminister Ulf Kristersson gemeinsam mit seiner Sozialministerin und dem Justizminister dementierten, dass der Staat jemals irgendwelche muslimischen Kinder entführt habe. Sie stellten einen Maßnahmenkatalog vor, der dieser Propaganda entgegenwirken soll.
Für die schwedische Agentur geht es bei der Bekämpfung solcher Propaganda nicht darum, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Sie sei nicht dazu da, Anweisungen zu erteilen oder Verbote auszusprechen. Eher sieht sie sich als eine Art Volkshochschule für den kritischen Umgang mit Fakten und Fake News. „Nichts und niemand hindert die Menschen daran, Lügen zu erzählen. Aber wir werden alles dafür tun, diese Lügen als Lügen zu entlarven“, so der Leiter.
So analysieren sie, wer die Videos vom Ausland aus streut, erklären in den Medien, welche enorme Wirkmacht die digitalen Narrative haben, und unterstützen die Gesundheits- und Sozialämter bei deren Infokampagnen. Es gibt selbstproduzierte Videos, in denen zwei junge Männer mithilfe von Zaubertricks zeigen, wie einfach man zu manipulieren ist. Ob es freilich hilft, wenn woke, blonde Schweden in offener Jeansjacke staunenden Einwandererfamilien erklären, wie leicht sie übers Ohr zu hauen sind und worauf sie doch bitte zukünftig im Netz zu achten haben, ist allerdings fragwürdig. Aber wie erreicht man diejenigen, die so misstrauisch sind, dass sie solche Kampagnen selbst von vornherein für Lügen halten? „In solchen Fällen hat es keinen Sinn, wenn wir der Absender sind. Wir können nur andere Ämter bei der strategischen Kommunikation unterstützen. Oder mit Leuten zusammenarbeiten, die in der jeweiligen Community glaubwürdig sind.“
Verschwörungstheorien als Werkzeug zur Spaltung einer Gesellschaft
Ein besonders starker Anstieg von Fake News wurde zur Zeit der Corona-Pandemie festgestellt. Rechte wie linke Impfgegner zeigten sich in vielen europäischen Metropolen vereint bei Protestkundgebungen, sie verbreiteten gemeinsam irrwitzige Thesen auf ihren Social Media-Plattformen.
Aber auch regionale Akteure aus der islamischen Welt haben keine Minute gezögert, um die Corona-Pandemie politisch zu instrumentalisieren. Zum Beispiel verbreitete Iran mehrfach Verschwörungstheorien. Dabei fuhr Teheran eine Doppelstrategie, eine digitale und eine physische. Zum einen verbreitete die Regierung über zahlreiche Kanäle, dass der Virus von den USA kreiert wurde und Teil des US-Krieges gegen die muslimische Welt sei. Dann inszenierte sich Iran als Retter in letzter Not. Das drückt sich dann aus in humanitärer Unterstützung, wie der Lieferung von Masken. Die Botschaft lautet: Iran ist der Beschützer vor US-Aggressionen.
Al-Mutar meint, das Vertrauen in Fake News bei arabisch sprechenden Bevölkerungsgruppen habe aber auch mit der Herkunft vieler muslimischer Migranten in Europa zu tun, aufgewachsen in totalitären Autokratien: „Stell dir vor, du bist ein 50-jähriger Iraker: mit 20 im Iran-Irak-Krieg, mit 30 der erste Bürgerkrieg, dann die Sanktionen und alle weiteren Kriege. Die ganze Zeit lebst du unter Saddam Husseins Staatspropaganda in Medien und Schule. Die Menschen sind dann nicht fähig, Propaganda zu erkennen – sie sind damit aufgewachsen. Das ist ein sehr fruchtbarer Boden für Falschinformationen. Das gilt eigentlich für alle Menschen, die in einer Diktatur aufwachsen und leben.“
Mittlerweile werden Organisationen in der arabischen Welt wichtiger und lauter, die aufklären wollen und mit Gegenkampagnen den „Unwahrheitsgehalt“ von Fake News belegen wollen. Sie beobachten ständig die sozialen Medien im Nahen Osten und was gerade viral geht. Darauf konzentrieren sie sich dann, jedoch nutzen verschieden Verschwörungstheorien die repetitive Strategie. Zum Beispiel wurde ein Video gemacht über die Verschwörungstheorie, wonach Bill Gates das Coronavirus erschaffen haben soll. Einige Wochen später stießen die Macher auf die Nachricht, Jeff Bezos sei der Urheber des Corona-Virus. Das ist exakt dieselbe Meldung und wäre nur verschwendete Energie, darauf noch einmal einzugehen.
Falsch- und Desinformationen sind ein gesellschaftliches Problem, so der Aktivist Al-Mutar. „Wir müssen den Menschen Medienkompetenz und kritisches Denken vermitteln. Unsere Zielgruppe muss dabei vor allem die arabische Jugend sein. Es funktioniert nicht, den Menschen einfach zu sagen: ‚Wenn du das glaubst, bist du ein Idiot'“. Den Menschen muss man Werkzeuge in die Hand geben, um selbst Falschmeldungen und Desinformationskampagnen zu erkennen – um für sich selbst denken und Fakt von Fiktion unterscheiden zu können. Das ist der beste Impfstoff gegen Fake News.
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