Sein Name war langer Zeit in aller Munde in der Türkei. Das hat sich nun geändert: Spricht man ihn heute aus, muss man mit unliebsamen Konsequenzen rechnen: Hakan Sükür, DER Fußball-Held vom Bosporus. Diese Erfahrung musste der Fussballreporter Alper Bakircigil vom Sender TRT machen, als er während der WM 2022 das Spiel Marokko gegen Kanada kommentierte. Die Marokkaner erzielten ein frühes Tor durch Hakim Ziyech. Der Journalist kommentierte, dass dies Erinnerungen an das bedeutendste Spiel der türkischen Nationalmannschaft im Jahr 2002 wachrufen könne. Damals traf Hakan Sükür nach nur 11 Sekunden im Spiel um Platz drei gegen Südkorea, es ist bis heute das schnellste Tor in der WM-Geschichte. Bakircigil wurde zur Halbzeit ausgetauscht, ein Kollege übernahm. Denn Hakan Sükür, der prominenteste Fussballer der Türkei, ist mittlerweile eine Persona non grata – er fiel beim Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Ungnade.
Ein Interview mit ihm, welches kürzlich in Europa ausgestrahlt wurde, ist eine kleine Sensation. Denn Hakan Sükür, der in Palo Alto lebt, wo Apple seinen Konzernsitz hat, gab, nachdem er die Türkei verlassen hatte, nur einmal der „New York Times“ ein Interview. Dass Sükür sich an ein deutsches TV-Team wendet, verwundert nur auf den ersten Blick: In keinem anderen Land leben mehr Landsleute ausserhalb der Türkei, er kann sich sicher sein, dass seine Botschaft dort ankommt – und auch verstanden wird.
Der Begriff der Fallhöhe ist hier angemessen, denn Sükür ist nicht bloß einer von vielen populären türkischen Fussballern. Er ragt unter ihnen allen heraus. Er ist der erfolgreichste Stürmer, der je für Galatasaray spielte, und das Gleiche gilt auch für die Nationalmannschaft, für die er 51 Tore schoss. Die Massstäbe, die er im türkischen Fussball setzte, hat seither niemand erreicht. Dazu gehören der dritte Platz an der Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea sowie der Sieg im Uefa-Cup mit Galatasaray gegen den FC Arsenal im Jahr 2000, dem einzigen Europacup-Triumph eines türkischen Klubs. Zwar erscheint dies auf den ersten Blick nicht sonderlich imposant.
Die Karriere Sükürs aber ist eine durch und durch türkische, im Ausland fasste er nie richtig Fuß – weder bei Torino, Inter Mailand noch bei Parma. Umso grösser war die Bewunderung in der Heimat und auch in der türkischen Diaspora. Und doch ist der Mann, den sie „Kral“, den König, nannten, offiziell geächtet: Auf der Homepage des Traditionsklubs Galatasaray findet sich kein Verweis auf ihn, 2017 wurde er aus dem Klub ausgeschlossen.
Hakan Sükür ist ein Verstossener. Seine Geschichte erinnere an ein Drama von shakespeareschem Ausmass, wird in der TV-Dokumentation, die das Interview beinhaltet, gesagt: Der in Ungnade gefallene Volksheld und Schlachtengewinner, der es sich mit den Mächtigen verscherzt und verstossen wird. Dabei war der Kontakt des Fussballers zum Machthaber anfänglich eng. Sükürs Karriere in der Politik verlief ähnlich steil wie die im Fussball. Erdogans Regierungspartei AKP machte sich die Popularität Sükürs zunutze, dessen Status als eine Art Johan Cruyff Kleinasiens war allemal Grund genug, ihn zu protegieren. Die Liaison war allerdings nur von kurzer Dauer: Schon Ende 2013 trat Hakan Sükür aus der AKP aus. Er begründete dies mit deren feindlicher Haltung gegenüber der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen.
Die Nähe zur Gülen-Bewegung wurde ihm zum Verhängnis. Fethullah Gülen gilt den Behörden in der Türkei als Drahtzieher des gescheiterten Putsches von 2016. Damals kamen über 300 Menschen ums Leben. Sükürs kritische Haltung gegenüber Erdogans Regime mag von aussen heroisch erscheinen – die Gülen-Bewegung selbst ist nach liberalem Verständnis allerdings auch nicht unbedingt eine sympathische Vereinigung. Sie propagiert ein reaktionäres Gesellschaftsbild. Ihr Ziel ist es, den säkularen Staat umzubauen.
Sükür geriet ins Räderwerk der Politik. Aus der Allianz mit Erdogan wurde eine Feindschaft – mit Folgen für ihn und seine Familie. In der Dokumentation sagt er, das Leben in der Türkei sei ihm unerträglich gemacht worden. Deshalb verließ er 2015 das Land. Bald wurden Vorwürfe erhoben, er habe Erdogan beleidigt. Sükür dementierte: „Ich habe keinerlei Strafe verdient, ich habe sie nur entlarvt, indem ich mich nicht zu ihnen bekannt habe.“ Die Unerbittlichkeit, mit der gegen Sükür vorgegangen wurde, illustriert auch, dass es hier darum ging, an einer prominenten Figur ein Exempel zu statuieren. Die Botschaft ist unmissverständlich: Wenn selbst Sükür nicht sicher ist, dann ist es niemand. Es kann daher kaum verwundern, dass Sükür von den Kritikern Erdogans als ein Sinnbild begriffen wird: für die Unerbittlichkeit, mit der gegen Sympathisanten der Gülen-Bewegung infolge des Putschversuchs vorgegangen wurde. Und so kommt es, dass nahezu alles unternommen wurde, um die Erinnerung an Sükür auszulöschen.
Es ist eine „Mauer der Angst“, wenn es um das Tabu Sükür gehe – nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland. Von der Mannschaft, die unter der Regie von Sükür 2002 WM-Dritter wurde, äussert sich kein einziger Mitspieler zum Fall des Stürmers. Dabei waren prominente Kicker dabei, so Ümit Davala, der den Bundesliga-Fans noch von Werder Bremen bekannt ist. Yildiray Bastürk, seinerzeit in Leverkusen, taucht ebenso wenig auf wie der aus dem Allgäu stammende Ilhan Mansiz. Immerhin bescheinigt ein einziger Anhänger dem ehemaligen Stürmer, ein untadeliger Sportsmann gewesen zu sein. Eine in Berlin durchgeführte Umfrage ergibt ein ähnliches Bild: Der eine oder andere kann sich zwar gut an die Erfolge Sükürs erinnern und spricht auch gerne darüber. Seine politischen Verwicklungen möchte auf Nachfrage aber niemand kommentieren.
Um Sükür ranken sich schon jetzt Legenden. Das verwundert bei einer Figur wie ihm nicht. Noch immer kursiert die Geschichte, dass Sükür verarmt als Fahrer für Uber arbeite. Tatsächlich hat Sükür nicht als Fahrer seinen Lebensunterhalt verdient; er arbeitet für einen weltbekannten Onlinehandel. Auch dürften Zweifel angebracht sein, dass Hakan Sükür verarmt ist. Zwar dürften seine türkischen Konten beschlagnahmt worden sein, was aber längst nicht bedeutet, dass er nicht Zugang zu anderen Mitteln haben könnte, die sich dem Einfluss der türkischen Justiz entziehen. De facto aber verlor Sükür fast alles. Wäre er eine antike Figur und kein Protagonist der Gegenwart, von dem in etlichen Quellen berichtet wird, wären seine Spuren für Historiker wohl kaum mehr zu rekonstruieren.
Eine Rückkehr Sükürs in die Türkei? Das ist undenkbar – zumindest solange der Präsident Recep Tayyip Erdogan heisst. Obwohl Sükür in der Dokumentation erklärt, dass man ihm eine Amnestie versprochen habe, wenn er ein paar bedauernde Worte über seine damalige Haltung sagen würde. Nur hat sich an dieser nichts geändert. Sükür schliesst einen Kotau kategorisch aus: „Ich versuche immer, aufrecht zu bleiben. Selbst wenn ich mich auf dem grössten Platz der ganzen Welt vor einem Galgen erklären müsste und sie mich für schuldig erklären, würde ich diesen Schritt gehen.“