Wahlen in Europa waren auch immer abhängig von der Religionszugehörigkeit der Wähler: Während Katholiken häufiger konservative Parteien bevorzugten, tendierten Protestanten zu den Sozialdemokraten. Gilt das aber auch für die wachsende Zahl der Wahlberechtigten, die keiner christlichen Kirche angehören, sondern in all ihrer Verschiedenheit die drittgrößte Glaubensgemeinschaft hierzulande bilden, den Islam? In Deutschland gibt es weder offizielle Statistiken darüber, wie viele Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft muslimischen Glaubens sind, noch darüber, wie viele davon jemals von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben.
Die repräsentative Wahlstatistik, die in den meisten Ländern nach wie vor erstellt wird, bringt kaum Licht in dieses Dunkel. Bis auf Alter und Geschlecht werden soziodemographische Merkmale nicht erhoben. Theoretisch ergiebiger sind die immensen Datensätze, die bei sogenannten Nachwahlbefragungen entstehen, die seit Jahrzehnten im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten stattfinden. Bereits im Herbst 2018 nahmen deutsche Demoskopen in die Fragebögen in der Rubrik Konfession als dritte Antwortmöglichkeit „muslimisch“ auf. „Wir wollten den Antwortraum möglichst gut abdecken“, sagt eine verantwortliche Wahlforscherin. Die Auswertung der Daten war aber schwierig. Zwar haben nach Schätzungen etwa 45 Prozent der mutmaßlich fünf bis sechs Millionen Muslime in Deutschland auch die deutsche Staatsbürgerschaft, aber offenbar beteiligt sich bislang nur ein kleiner Anteil an Wahlen. Tatsächlich war die Zahl derer, die sich nach der Stimmabgabe als Muslim zu erkennen gaben, in den vergangenen Jahren fast immer zu klein, als dass das Wahlverhalten gesondert hätte ausgewiesen werden können.
Die Wiederholungswahl im Land Berlin vom 23. Februar 2023 war der erste Fall, wo dies möglich war – und das, obwohl der Anteil der Konfessionslosen in der Hauptstadt deutlich höher ist als in der ganzen Bundesrepublik. Im Westteil der Stadt rechnen sich 55 Prozent keiner der großen Glaubensgemeinschaften zu, im Osten 80 Prozent. Aufs Ganze gesehen wird der Anteil der Konfessionslosen in Deutschland auf 38 Prozent geschätzt. In Berlin dagegen betrug der Anteil der konfessionslosen Wähler 59 Prozent. Und nur knapp ein Viertel der 17.478 repräsentativ Befragten gab sich als Mitglieder der evangelischen Kirche zu erkennen, acht Prozent waren katholisch – drei Prozent (gut 500) als muslimisch.
Hochgerechnet auf die Zahl der Muslime insgesamt, ist diese Kohorte auch dann noch verschwindend klein, wenn man sie auf die Zahl der Wähler insgesamt umrechnete. Dann hätten unter denen gut 1,5 Millionen, die am 23. Februar gewählt haben, nur 45.000 muslimische Bürger von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht. Allerdings ist nicht zu ermitteln, wie viele Muslime wahlberechtigt waren, was die Aussagekraft dieser Zahl erheblich einschränkt. Man wird jedoch nicht fehlgehen, wenn man vermutet, dass die Wahlbeteiligung in dieser Gruppe erheblich geringer war als die der Bürgerschaft insgesamt – und das, obwohl sich 2023 nur zwei Drittel der Berechtigten (62,9 Prozent) an der Wahl des neuen Abgeordnetenhauses beteiligten.
Erstaunlicher als die niedrige Wahlbeteiligung der Muslime war die Verteilung der Stimmen. Die rechtsextreme AfD schnitt in der Gruppe der konfessionsgebundenen Wähler unter den Muslimen am schlechtesten ab. Insgesamt kam die AfD auf 9,1 der Zweitstimmen. Leicht unterdurchschnittlich war der Zuspruch unter den evangelischen Wählern. Sieben Prozent von ihnen gaben der teilweise gesichert extremistischen Partei ihre Stimme. Unter den Katholiken waren es nur noch fünf und unter den Muslimen vier Prozent. Allerdings wäre es verwunderlich, wenn Muslime sich von einer Partei angezogen fühlten, die den Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft mit Verachtung, wenn nicht Hass begegnet.
Konservatives Gedankengut ist Muslimen dagegen vertraut, etwa die Hochschätzung der Familie oder von Religion. Anders lässt sich nicht erklären, dass die CDU im Februar 2023 mehr als ein Viertel der Stimmen der Muslime auf sich vereinigen konnte – was am Tag nach der Wahl für Erstaunen sorgte. Das Wahlverhalten der Muslime entsprach mit 28 Prozent exakt dem Gesamtergebnis der CDU. Wie sich das Ergebnis der Union unter den Muslimen im Vergleich zu der Wahl im September 2021 entwickelt hat, lässt sich indes nicht sagen. Wegen der gleichzeitig stattfindenden Bundestagswahl hatten die Interviewer die „Konfession“ nicht erhoben.
Nicht mit früheren Ergebnissen zu vergleichen ist auch die Verteilung der Stimmen der Muslime auf die anderen Parteien. Allerdings passt das Berliner Muster recht gut zu dem, was man aus älteren Befragungen weiß, die nicht im direkten Zusammenhang mit Wahlen entstanden sind. Demnach verorten sich die meisten politisch aktiven Muslime nicht nur traditionell links der Mitte, sondern auch aktuell: 25 Prozent stimmten für die SPD (Gesamtanteil 18,4 Prozent) und 15 Prozent für die Linkspartei (gesamt 12,2 Prozent). Das entspräche zusammen 40 Prozent. Nähme man die Grünen mit acht Prozent hinzu, wäre eine rot-rot-grüne muslimische Mehrheit sicher. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Grünen insgesamt auf gut 18 Prozent kamen, mithin die Sympathien für die im Bund mitregierende Partei unter den Berliner Muslimen nicht sonderlich ausgeprägt waren. Bei der FDP gab es dieses Missverhältnis nicht. Ihr Stimmenanteil unter den Muslimen war mit nicht einmal fünf Prozent genau so gering wie in der gesamten Wählerschaft.
Wie aber kommt es, dass Grüne und AfD unter konfessionell gebundenen Wählern auf ihr jeweils schlechtestes, SPD und Linke auf ihr jeweils bestes kamen? „Die geringen Fallzahlen lassen eine Differenzierung nach weiteren soziodemographischen Parametern nicht zu“, sagt ein Experte. Das Verteilungsmuster kommt einem durchaus vertraut vor. SPD und in jüngerer Zeit auch die Linkspartei hätten sich lange als Sachwalter der Interessen der als „Gastarbeiter“ nach Deutschland eingewanderten Personengruppen gefühlt, allen voran der Türken. Entsprechend groß ist bis heute der Anteil von Migranten mit türkischem Hintergrund, die mit einem Parteibuch der SPD oder der Linkspartei, wenn nicht der Grünen in Kommunen und auch Landesparlamenten Politik machen. Der Linksdrall der politisch aktiven Muslime sollte aber nicht als quasi naturgegeben angesehen werden. Denn das Ergebnis der Europawahl im Juni spricht eine andere Sprache als das der Berliner Wahl vom Februar 2023 wie auch der Wahl zum Europäischen Parlament 2019. Nach neuesten Daten hatten SPD und Grüne unter den muslimischen Wählern in Westdeutschland erwartungsgemäß mit Abstand am besten abgeschnitten – in Ostdeutschland war die Fallzahl zu klein, um daraus Schlüsse ziehen zu können. So auch am 9. Juni, weshalb sich die folgenden Angaben nur auf die alte Bundesrepublik mit Berlin-West beziehen. Im Westen gab es demnach für beide Regierungsparteien samt der Linkspartei ein böses Erwachen. Hatte es 2019 rechnerisch für eine rot-grün-rote Mehrheit gereicht, stimmen für die SPD statt 32 nur noch 13 Prozent der Muslime. Die Grünen fielen von 21 auf sieben Prozent zurück, die Linkspartei musste sich mit acht statt 13 Prozent zufrieden geben.
Als Gewinner fühlen konnten sich außer der CDU, die ihren Anteil von zehn auf 15 Prozent steigerte, ausgerechnet jene Parteien, die es 2019 noch nicht gegeben hatte. Das populistische Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die ausschließlich auf die deutschtürkische Wählerschaft zielende Neugründung DAVA (Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch). Sie kamen auf einen Stimmenanteil von jeweils 17 Prozent. AfD und FDP blieben mit je drei Prozent bedeutungslos. Für Wahlforscher spiegelt sich in dem Absturz von SPD, Grünen und Linken die innenpolitische Stimmungslage im Westen Deutschlands. Die Erwartungen an die seit 2021 regierende „Fortschrittskoalition“ in Berlin seien einer tiefen Enttäuschung gewichen. Als vollgültiger Ersatz boten sich muslimischen Wählern offenbar zwei neue Gruppierungen an: das BSW als Projektionsfläche für die Erwartungen einer eher linken Wählerschaft, DAVA mit ihrer ethnonationalistischen Rhetorik als Sachwalter der Interessen einer in der Aufnahmegesellschaft nicht hinreichend wertgeschätzten türkischen Minderheit. Insgesamt aber unterscheidet sich das Wahlverhalten der Muslime weniger stark oder eher punktuell von dem der Bevölkerung allgemein als oft angenommen: Noch häufiger als in der Mehrheitsgesellschaft ist die Bindung an Parteien in dieser Subgruppe eher schwach. Entsprechend groß ist die Volatilität des Stimmverhaltens, zumal bei einer „Nebenwahl“ wie der Europawahl, bei der es um nicht viel geht und das gefühlte Gewicht der eigenen Stimme noch geringer ist als ohnehin.
Das gilt vor allem für das schwache Abschneiden der im Frühjahr mit viel medialer Aufmerksamkeit bedachten DAVA. Während es in der Mehrheitsgesellschaft üblich ist, Einwanderer aus islamisch geprägten Ländern pauschal als Muslime zu bezeichnen und sie damit über die mutmaßliche Religionszugehörigkeit zu definieren, ist der religiöse und auch politische Pluralismus unter den Migranten nicht weniger ausgeprägt als in der Aufnahmegesellschaft. Das Mobilisierungspotential „islamspezifischer Parteien“ beschränkt sich daher auf einen kleinen Kern von Wahlberechtigten mit meist türkischem Hintergrund.
In dieses Muster passt, dass viele Migranten sich von den traditionellen Parteien „nie wirklich repräsentiert“ gefühlt und sich eher in „Organisationen mit Nestwärme“ organisiert haben. Die SPD ist längst nicht mehr die Ausnahme von der Regel. Figuren wie Thilo Sarrazin hätten viele Migranten vor den Kopf gestoßen. Wenn sich aber muslimische Wähler wie andere ihre Wahlentscheidung nach sozioökonomischen Erwägungen und kulturellen Präferenzen treffen, dann ist weder das relativ gute Abschneiden der CDU in Berlin wie in der Europawahl (15 Prozent, plus fünf Punkte) noch das sehr gute des BSW ein Mysterium. Die CDU hat sich in den vergangenen Jahren den Migranten gegenüber geöffnet. Das BSW hingegen, das unter den Muslimen in Westdeutschland besser abgeschnitten hat als alle traditionellen Parteien einschließlich der AfD, konnte von einem für Einwanderungsländer typischen Phänomen profitieren: „Die Letzten, die gekommen sind, sind die Ersten, die dagegen sind, dass noch mehr nachkommen“, so ein klassisches Paradox. Daher ist es plausibel, dass muslimische Wähler dem Anti-Multikulti-Programm des BSW mehr abgewinnen könnten als der grünen Willkommenskultur und der einer enttäuschenden SPD.
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