Während die Wahlbüros enallmählich schließen und sowohl die Türkei als auch die internationale Politik gespannt auf die ersten Hochrechnungsergebnisse der Stichwahl für das Amt des türkischen Staatspräsidenten warten, möchte MENA Research and Study Center einen Blick auf die vergangenen Tage und Wochen werfen und erklären, wie es dazu kam, dass der für viele favorisierte Kandidat Kemal Kilicdaroglu allem Anschein nach diese Stichwahl verlieren wird.
Ein Oppositionsbündnis aus sechs Parteien sollte es also sein, welches den langjährigen Machthaber der Türkei Recep Tayeb Erdogan bei den Präsidentschaftswahlen 2023 herausfordern wollte. Ein Bündnis aus Parteien, die im Kern teils unterschiedlichste und völlig konträre Werte und Ansichten vertreten. Doch eine Vision und ein Ziel einte diese Parteien: den Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen 2023 und damit einhergehend die Beendigung der langjährigen Regentschaft Erdogans. Auf Grund der sich zunehmend verschlechternden Wirtschaftslage geriet Erdogan mehr und mehr unter Druck. Es entstand eine Aufbruchsstimmung innerhalb der Bevölkerung. Junge Türken träumten von einer neuen politischen Ordnung in der Türkei, einem Verschieben der Kräfteverhältnisse am Bosporus. Doch schnell wurde klar: die größte Herausforderung für das Oppositionsbündnis war nicht die politische Konfrontation mit Erdogan und dessen AKP, sondern die Zusammenarbeit innerhalb des Oppositionsbündnisses selbst. Kemal Kilicdaroglu stellte rasch Ansprüche, sich als Präsidentschaftskandidat des Oppositionsbündnisses aufstellen zu lassen, zum Leidwesen der IYi Partei und deren Vorsitzender Meral Aksener. Diese bevorzugte den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu bzw als Alternative den Oberbürgermeister von Ankara Mansur Yavas als Kandidat.
Erdogan und dessen AKP versuchten mit Schmutzkübelkampagnen die vorgeschlagenen Kandidaten der Opposition zu diffamieren. Bereits im Dezember 2022 war Imamoglu durch ein Gerichtsverfahren politisch geschwächt worden. Darüber hinaus plante die AKP noch vor den Wahlen ein Politikverbot gegenüber Imamoglu auszusprechen, um diesen als Kandidat zu verhindern.
Doch dann kamen die Morgenstunden des 06 Februar 2023. Ein Jahrhunderterdbeben erschütterte weite Teile der Süd Türkei, machte Ortschaften und Regionen nahezu dem Erdboden gleich und forderte mehr als 50.000 Tote. Der türkische Staat, allen voran Machtinhaber Erdogan schien mit diesem Ereignis völlig überfordert. Hilfskräfte erreichten nur verzögert und teilweise unzureichend ausgerüstet die betroffenen Regionen, das staatliche Krisenmanagement stand still. Erdogan taumelte. Aus der Not heraus und auf Grund massiver interner Kritik verurteilte man rasch Bauunternehmer, welche sich nicht an die baulichen Maßnahmen gehalten haben sollen. Den Betroffenen war rasch klar, dass das über die Jahre marode und korrupte Staatssystem diese Baumängel gegen die Entgegennahme von Schmiergeldern bewusst in Kauf nahm. Diese Tatsache war Wasser auf den Mühlen der Opposition. Kilicdaroglu reiste durch die betroffenen Regionen, zeigte sich volksnahe und versprach Abhilfe, neue Vorschriften in der Bauverordnung und entsprechende Prozesse für die Verantwortlichen. Erdogan wiederum versuchte mit Versprechen wie: „Innerhalb eines Jahres werden wir diese Gebiete wieder aufbauen. Besser, als zuvor“ die Wählerschaft auf seine Seite zu ziehen und den Unmut der Betroffenen zu besänftigen.
Etwa ein Monat vor den Wahlen lag Kilicdaroglu in den meisten Umfragen teils deutlich vor Erdogan. Westliche Diplomaten begannen gezielt das Gespräch zu Kilicdaroglu zu suchen, um mit ihm bereits an einer Planung der außenpolitischen Beziehungen etwa zur Europäischen Union zu verhandeln.
In der Nacht vom 14ten auf den 15ten Mai kam alles ganz anders. Erdogan hatte den ersten Wahldurchgang, wenn auch nicht mit absoluter Mehrheit deutlich vor seinem Konkurrenten Kemal Kilicdaroglu mit 49.5 % gewonnen. Dabei viel vor allem eines sehr deutlich auf: Sowohl in den Erdbebengebieten als auch innerhalb der europäischen Diaspora hatte Erdogan Rekordergebnisse eingefahren. Es stellte sich rasch die Frage: wie war das möglich?
Erdogan hatte es geschafft, große Teile des Landes, trotz einer wirtschaftlichen Krise und eines Jahrhunderterdbebens hinter sich zu vereinen. Seine Rhetorik der Westen wolle bewusst die Türkei politisch schwächen, um mittelfristig die türkischen Werte gegen moderne Ansichten auszutauschen hatte gefruchtet.
Es wurde eines nach diesem ersten Wahldurchgang klar:
- den türkischen Wähler bewegen andere Ursachen, als das der westliche Bürger in Europa wahrnimmt,
- Erdogan hat es wieder einmal geschafft die türkische Diaspora in Europa auf seine Seite zu ziehen, obwohl viele der vor allem jüngeren Generation in Europa aufgewachsen und ausgebildet sind.
Eine weitere Überraschung dieser Wahl war die mit knapp 5% der Wählerstimmen überaus hohe Akzeptanz gegenüber dem türkischen Nationalisten Sinan Ogan. Rasch wurde dem Oppositionsbündnis bewusst, dass Ogan somit zum Königsmacher werden würde und bei einem entsprechenden Angebot seitens Erdogan eine Wählerempfehlung aussprechen wird. Keine 12 Stunden nach der Wahl kam es bereits zu ersten Verhandlungen zwischen den Beratern Erdogans und den Beratern von Ogan, welcher schließlich am 22 Mai 2023 seine Wählerschaft dazu aufrief Erdogan im zweiten Durchgang ihre Stimme zu schenken.
Wie auch immer die zweite Runde ausgehen wird, der zukünftige Präsident der Türkei wird sich umfangreichen Herausforderungen, wie etwa der Zukunft von Hunderttausenden syrischen Flüchtlingen, oder auch der Restaurierung der türkischen Wirtschaft stellen müssen, um die Türkei als Land mittelfristig wieder in ruhigere Gewässer zu führen.
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